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Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel

Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel

Titel: Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
Autoren: Elisabeth Zöller
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das Buch, das der Führer für mich signiert hatte. Und mein Vater hat einen Zettel beigelegt mit den Worten:
Vergiss nicht, was wichtig und richtig ist!
    Ich starre lange auf den Fetzen Papier. Ich kann es nicht glauben. Ist das alles, was mein Vater mir zu sagen hat?
Vergiss nicht, was wichtig und richtig ist!
Ist das wirklich alles?
    Ich schäme mich für ihn. Ich schäme mich unglaublich. Seine Worte hören sich so an, als wäre für jeden selbstverständlich, was wichtig oder richtig ist. Als gäbe es nur eine Antwort.
    Ich gehe ans offene Fenster und muss erst einmal tief durchatmen. Dann starre ich den Mond an, der heute Abend so gespenstisch klar am Himmel steht und sein warmes Licht ausstreut. Wichtig und richtig ist ganz bestimmt nicht das, was mein Vater dafür hält.
    Ich schlage das Buch vorne auf, starre nur kurz auf die Signatur des Führers. Dann nehme ich ganz langsam diese eine Seite und reiße sie mit einem Ruck aus dem Buch heraus.
    Dieses lose Blatt halte ich zwischen meinen zitternden Fingern und zerreiße es ganz schnell und mit Kraft in zehn, zwanzig, nein hundert Schnipsel, werfe die Schnipsel auf den Boden, werfe dazu Papas Zettel, trampele darauf herum und schreie so laut, dass man es bestimmt überall im Kloster hören kann: »Ich schäme mich für dich! Du und dein Führer – ihr seid Mörder!«
     
     

Am
10
. Oktober
1943
ist die Stadt Münster Ziel eines verheerenden Bombenangriffs. Zwischen
15
:
03
 Uhr und
15
:
18
 Uhr fallen insgesamt
3602
Bomben auf die Stadt und zerstören sie fast vollständig. Dabei kommen viele Menschen ums Leben, darunter auch Paulas Eltern.
    Hans ist zu diesem Zeitpunkt bei seinen Großeltern in Warendorf und überlebt dort den weiteren Krieg. Es gelingt der Großmutter, zu verhindern, dass Hans zum Ende des Krieges beim Volkssturm
*
eingezogen wird. Weiteres über das Schicksal von Hans ist nicht bekannt.
    Werner dagegen wird, so wie er gehofft hat,
1943
Soldat. Er kehrt nicht von der Front zurück.
    Franziska geht mit ihren Eltern nach Berlin. Wie ihre Mutter versucht sie sich als Schauspielerin, und es gelingt ihr nach dem Krieg eine Karriere am Theater.
    Gertrud bleibt Paulas Freundin. Weiteres ist nicht bekannt.
    Und Mathilda …?

Nachwort
    Die fremde Stimme am Telefon ist leise und stockend, aber gut verständlich. »Das waren Mörder damals – und mein Vater war einer von ihnen.«
    »Können Sie mir bitte sagen, wer Sie sind?«, frage ich mit dem Hörer am Ohr.
    »Ich bin heute eine alte Frau. Ich war fünfzehn, als ich es entdeckt habe, das war 1941, da habe ich gemerkt, was mein Vater tat.« Sie stößt mir diese Worte entgegen, ich kann sie erst nicht abwehren, aber dann will ich zuhören. Doch danach schweigt sie, als wartete sie. Worauf?
    »Wer sind Sie?«, frage ich – immer wieder.
    »Ich will lieber namenlos bleiben.«
     
    Das war im Januar 2005, ein Jahr nachdem mein Buch
Anton oder Die Zeit des unwerten Lebens
herausgekommen war. Und dieses Buch hatte sie gelesen, die Anruferin. Es hatte ihr Mut gemacht, sich an mich zu wenden.
    In späteren Telefonaten erzählte sie mir mehr Einzelheiten und bat: »Könnten Sie diese Geschichte aufschreiben? Bitte! Es gibt viel zu wenig Geschichten über die Kinder von Tätern, Geschichten, in denen ein Kind entdeckt, dass der Vater ein Verbrecher ist. Und es begehrt auf und wird stumm gemacht. So waren die Machthaber. Bitte schreiben Sie das alles auf.«
     
    Wir trafen uns später in einem Café. Sie sagte mir ihren Namen. »Aber verraten Sie ihn bitte nie. Ich schäme mich so.« Und sie verbarg ihre Hände im Gesicht. Eine alte, groß gewachsene, hagere, vornehm gekleidete Dame, die allerdings bei genauem Hinsehen im Gesicht markante Spuren trug. Ihre Geschichte hatte sich ihr um die Augen und den Mund tief eingezeichnet.
    Sie erzählte mir ihre Geschichte leise, mit flüsternder Stimme. Dazu zeigte sie mir Fotos von ihrem früheren und ihrem späteren Haus. Sie erzählte, berichtete und weinte immer wieder.
    »Es hat mich nie verlassen. Das müssen Sie schreiben, dass es einen nie, nie verlässt.«
     
    Kurze Zeit später las ich ihre Todesanzeige in der Zeitung. Es kam mir seltsam vor, dass sie, die Münster schon nach dem Krieg verlassen hatte, dort mit einer solchen Anzeige bedacht wurde.
    Sie hatte mir berichtet, dass sie nach dem Krieg bei den Nonnen Abitur gemacht und danach Medizin studiert habe, dass sie Ärztin für Neurologie und Psychiatrie geworden sei, um vielleicht irgendwann
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