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Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel

Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel

Titel: Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
Autoren: Elisabeth Zöller
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Papierchen gekritzelt.
    Sie antwortet mit einem seltsamen Satz: »Es gibt Zeiten, da gibt es auf viele Fragen keine Antwort. Und in solch einer Zeit leben wir.«
     
    Mein Vater macht alles kaputt. Auch hier. Er ist schuld, dass ich meine Familie verloren habe.
    »Mama«, schluchze ich, »Mama, komm doch wenigstens jetzt zu mir.« Aber alle sind weg, alle, die ich mal lieb hatte.
    Der Hund an der Kette kann sich einfach nicht beruhigen. Er bellt und kläfft. Er jault. Er heult den Wald an. Und dahinter sehe ich Mamas Gesicht. Mama! Warum kann ich mich nicht beruhigen?
    Sie hat mich doch auch verlassen, schreit es in mir. Sie hat sich doch gar nicht gewehrt. Sie hätte schreien müssen, die Zähne zeigen, wie eine Tigermutter aufheult und das Maul aufreißt, wenn ihr Kind in Not ist.
     
    Am Morgen helfe ich Schwester Angelika beim Ankleiden der Kinder. Ich binde meiner kleinen »Mistkröte« die Schuhe zu. Sie nimmt mich in den Arm und schmatzt mir einen Kuss auf die Wange. Ich drücke sie ganz fest an mich und spüre so etwas wie Sehnsucht.
    Später am Vormittag sitze ich vor Schwester Antonias großem, mächtigem Schreibtisch. Im Wandregal hinter ihr türmen sich Bücher. Ihre Ordnung ist kunterbunt, aber liebenswürdig.
    Sie hat eine schmale Kladde aufgeschlagen und hält einen Schreibstift in der Hand. Ich rutsche tief in den Stuhl und fühle mich schlapp.
    »Sitz gerade, Paula.« Ein strenger Blick zischt über den schmalen Rand ihrer Brille und nagelt mich an der Rückenlehne fest. »Wir haben viel für dich gebetet, Paula.« Sie macht eine Pause. Sie macht immer eine Pause, wenn sie etwas Wichtiges zu sagen hat. Sie legt den Stift neben die Kladde und sieht mich an. »Wir wissen nicht, ob dir das geholfen hat. Aber wir haben auch über dich nachgedacht, und wir wollen dir einen Vorschlag machen: Du kannst hierbleiben, wenn du willst. Allerdings wirst du gegen deine Traurigkeit anarbeiten müssen. Erst in der Näherei, dann in der Küche. Du wirst dich um die Mädchen in deinem Schlafsaal kümmern. Du wirst aufrichtig sein und Anteil nehmen. Du wirst für sie da sein, ihnen zuhören, mit ihnen spielen und lernen. Manche von ihnen sind viel schlimmer dran als du. Die brauchen dich dringend.«
    Ich will antworten, bewege meine Lippen, atme tief, dann immer schneller. Aber es kommt einfach kein Laut. Ich räuspere mich, will mit den Lippen, mit der Zunge Worte formen, aber meine Zunge versagt, der Atem stockt. Die Worte kommen nicht mehr! Wo sind sie? Tränen schießen stattdessen aus meinen Augen.
    »Wir werden dich unterrichten. Wenn du deine Stimme wiedergefunden hast, werden wir dich auf unsere Schule schicken. Du wirst lernen und arbeiten. Das mit dem Beten überlassen wir dir.«
    Erst war da nichts als Abwehr. Doch jetzt schleicht sich ganz langsam ein anderes, neues Gefühl an. Es schmeckt so fremd und rau.
Ich bin frei.
Für einen Augenblick sauge ich diese neue Freiheit tief in mich ein. Und ich weiß, dass sie ohne Drohungen und laute Worte auskommt.
Ja
, möchte ich rufen,
ja
! Stattdessen richte ich mich hoch auf in meinem Stuhl – und nicke.
    Schwester Antonia lächelt. Sie weiß, dass ich begriffen habe.
    »Mehr erwarten wir nicht von dir. Du hast ein Bett, Nahrung, Kleidung, und wir bieten dir sichere Wände und ein Dach über dem Kopf. Das ist viel in einer solchen Zeit. Alles andere wird sich finden.«
    Sie klappt die Kladde zu und legt den Stift drauf. Dann steht sie auf und kommt um den Tisch herum auf mich zu.
    »Übrigens, du hast Besuch«, sagt sie. »Es ist ein Junge. Er behauptet, dein Bruder zu sein. Wir haben ihn weggeschickt. Aber der Kerl ist stur, er sitzt da draußen und friert sich den Hintern ab. Adolf mag ihn nicht.«
    Adolf?
Ich mache wohl ein verdutztes Gesicht.
    Schwester Antonia lacht: »So heißt unser alter Hofhund. Es macht Spaß, ihm das Bellen zu verbieten.«
    Solche Witze hätte ich den Nonnen gar nicht zugetraut. Meine Hand fährt über meinen Mund, und ich halte mir die Nase zu. Ich muss prusten vor Lachen.
    Schwester Antonia streichelt mir über den Kopf. »Ja, wir haben viel Spaß mit Adolf. Aber dein Bruder darf hier in der Uniform nicht rein. Ich dulde keine Stiefel, keine Koppelschlösser, kein Halstuch, keine Fahrtenmesser am Gürtel, vor allem keine braunen Hemden. Wenn er die Hand hebt zum ›Heil Hitler‹, hetze ich Adolf auf ihn. Geh mit ihm in den Stall. Da hängen Kittel. Er soll sich umziehen. Dann bring ihn in die Küche. Ich glaube nämlich, er hat
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