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Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel

Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel

Titel: Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
Autoren: Elisabeth Zöller
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liest mit ihrer warmen Stimme laut vor. Sie liest mir aus
Nils Holgersson
vor. Sie hat sich mein Kopfkissen in den Nacken gestopft. Sie sagt, dass sie es so nicht mehr suchen muss, wenn ich nachts schreie und tobe.
    »Ich habe kein anderes Buch gefunden«, behauptet sie. »Jedenfalls keins, was dir helfen könnte. – Du murmelst viel, wenn du schläfst. Du treibst dich auf Bahnhöfen herum und sprichst mit Mathilda. Du musst damit aufhören. Du musst sprechen, wenn du wach bist, und nachts schlafen.«
    Ich schaue sie an und versuche, ihr mit meinem Blick zu sagen, dass ich nicht anders kann.
    »Ja«, sagt Angelika ernst. »Und außerdem möchte ich mal wieder in meinem eigenen Bett schlafen.« Sie zwinkert mir zu. Sie steht auf und wirft mir das Kissen an den Kopf. Sie lacht dabei, und ich versuche es auch.
    Langsam lerne ich den großen Schlafsaal kennen. Mein neues Zuhause: kleine weiße Tische mit gedrechselten Beinen, die jeweils zwischen zwei Betten stehen. Wohl dreißig weißlackierte, metallene Bettgestelle an der ganzen Wand entlang. Karierte Bettbezüge, dünne Matratzen, die nach Pferdehaar riechen. Zwischen den Betten kann man Vorhänge zuziehen, dann ist man für sich.
    An der Stirnseite des Saales sind Fenster. Ich schaue von dort hinaus auf einen weitläufigen Bauernhof, der wohl zu diesem Haus gehört. Der Kamin raucht, der Misthaufen dampft, und aus einem Stall dringt das Muhen der Kühe. Ein Hund zerrt an seiner Kette. Dahinter liegt ein tiefer, dunkler Wald. Alles ist überzogen mit einer leichten, weißen Schneeschicht.
    Ich atme die milde Winterluft tief ein. Das fast völlige Fehlen von Farbe tut gut. Das Dröhnen in meinem Kopf wird leiser. Meine Augen beruhigen sich. Ich schaffe es, auf einen Punkt zu schauen, ohne dass mir schwindelig wird. Aber ich kann immer noch nicht sprechen.
    »Es hat ihr die Sprache verschlagen«, höre ich jemanden sagen.
    Und nachts sind immer noch die Träume da, kriechen in mein Bett und überrollen mich: Papa, der mich schlägt, eine wuchtige Gestalt, die mit drohender Stimme von oben auf mich einhackt. Meine Angst vor Papa, meine Sehnsucht nach Papa. Ich schäme mich für ihn.
    Wenn man aus einem bösen Traum erwacht, wo man schreiend floh, fasst man sich ans Knie. Man fühlt, ob das Bein noch da ist. Und die Füße. Man braucht sie doch, um wegzulaufen. Dreimal schon habe ich den ganzen Schlafsaal wachgeschrien.
    Aber meistens herrscht hier Stille. So leise wie das Brot, das ich am Morgen in die Milch tunke. Doch auch das Leise tut weh. Es macht stumme Tränen. Ich denke viel an Mathilda. Sie lebt in meinen Träumen. Aber darüber legt sich immer wieder der Albtraum mit meinem Vater, der auf einmal so weit von mir entfernt ist.
    Mein Vater hat mich verlassen, er hat mich einfach abgeschoben. Eine Stimme in mir begehrt auf. In den Nächten weine ich immer wieder um ihn.
    Doch ich mache mir auch Sorgen um ihn: Wie kann ein Mensch so etwas tun? Ein Vater. Da muss doch etwas mit ihm passiert sein, etwas ganz Schlimmes. Tut ihm das nicht weh?
    In solchen Augenblicken höre ich oft wie von Ferne die bellende Stimme des Führers.
    Und dann ist alles wieder weg. Dann kann ich sogar ruhig an Mama denken. Warum hat
sie
mich weggegeben? Warum hat
sie
sich Papa nicht in den Weg gestellt? Sie ist doch meine Mutter. Und Hans, der ist nun wirklich kein Feigling, und der weiß, was er will. Ich fahre dabei mit dem Finger über meine Beine, sie baumeln aus dem Bett, und ich male Muster auf die Haut, unsichtbare Muster. Man sieht sie genauso wenig wie meine Erinnerungen an zu Hause.
    In meinem Schlafsaal leben viele andere Mädchen. Sie sind jünger als ich. Manchmal sitzen sie auf meinem Bett, machen große Augen und starren mich an.
    »Du bist doof«, sagt eine und streckt mir die Zunge heraus.
    Na warte, denke ich. Du Mistkröte. Wenn ich wieder richtig kann, drehe ich dir den Hals um.
     
    Am Morgen fällt Regen. Er geht in Schnee über. Der Wind kommt von Westen. Woher ich das weiß? Ich beobachte das Licht. Ich finde mich langsam wieder zurecht. Draußen heult der Hund an der Kette. Der Wind treibt Schneeflocken an das Fenster.
    Flocken, Erinnerungsflocken, vor einem dunklen Hintergrund. Ich stelle die Bilder, die ich von Vater habe, in eine weit entfernte Ecke. Das hat er verdammt nochmal verdient.
    Und immer wieder kommen die Fragen.
Warum, warum, warum?
Und:
Wo bin ich hier, wohin führt das alles?
    Ich frage Schwester Antonia, ich stelle ihr meine Fragen auf kleine
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