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Vater sein dagegen sehr

Vater sein dagegen sehr

Titel: Vater sein dagegen sehr
Autoren: Horst Biernath
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sie in seinem Gesicht neue Züge oder das seltsame Schattenspiel einer dunklen, befremdenden und geheimnisvollen Flamme, die sie irritierte.
    »Es ist auch nicht ganz einfach«, sagte er und senkte die helle Stirn mit den scharf abgesetzten Ecken des Haaransatzes und den ein wenig eingesunkenen Schläfen; »es ist sogar ziemlich kompliziert. Aber laß dir den rohen Stoff einmal weitererzählen: Also die Maschine mit ihrer Menschenfracht hebt sich vom Boden. Die Passagiere, zwei Politiker mit ihren Frauen, zwei Industrielle mit ihren Sekretärinnen und eine bekannte Schauspielerin, ahnen, daß ihr Zusammentreffen in diesem Flugzeug kein reiner Zufall ist, sondern daß der zehnte, der nicht erschienene Fahrgast, der einzige übrigens, der im Verlauf der nächsten Stunden die Katastrophe nicht überlebt — seine Hand im Spiele hat.«
    »Du läßt das Flugzeug abstürzen?« fragte sie angeregt. »Aber du hast doch gesagt, daß der zehnte Fahrgast sich verspätet und nicht dabei ist!«
    »Ja, das ist eine von den Pointen, die sich das Schicksal zuweilen erlaubt.«
    »Entschuldige schon, aber diese Pointe ist doch deine Erfindung! Du könntest dir doch auch irgend etwas anderes ausdenken!«
    »Ich glaube, du verstehst das nicht ganz...«, sagte er fast bestürzt; »weißt du, diese Figuren sind irgendwie schon existent, sie führen bereits ein Eigenleben und verblüffen mich durch ihre Handlungen und Gedanken.«
    »Also vorläufig fliegen sie einmal! Und nun?«
    Das Wasser im Kessel begann zu summen. Es war eigentlich an er Zeit, die Kanne vorzuwärmen und den Filter in den Porzellantrichter zu legen.
    »Ja, und jetzt kommt der Zeitpunkt, in dem sich die Schicksal zu verflechten beginnen. Vorschriftsmäßig versucht der Pilot eine halbe Stunde vor der Landung das Rollwerk auszufahren. Der hydraulische Mechanismus versagt. Irgend etwas im Triebwerk hat sich verklemmt. Die Situation ist äußerst bedrohlich. Der Brennstoff reicht noch für eineinhalb Stunden. In dieser Lage beschließt der Pilot, die Passagiere über die Situation zu unterrichten. Er erklärt ihnen, daß er die Versuche, das Fahrgestell auszulösen, so lange fortsetzen werde, als ihm der Brennstoffvorrat die Möglichkeit gebe, in der Luft zu bleiben. Sollten die Versuche negativ bleiben, so müsse er versuchen, die Maschine auf dem Bauch zu landen.«
    Er hob das Gesicht und starrte Margot an. Aber sie hatte das Gefühl, er nähme sie nicht wahr. Vor seinen Augen lag etwas wie ein Schleier, und hinter diesem Gespinst schien er, weit entrückt, die jagenden Bilder einer gespenstischen Vision zu verfolgen.
    »In diesen anderthalb Stunden drängt sich alles, was diese neun Menschen bewegt, zusammen. Alles komprimiert sich, ihre Gier, ihr Mut, ihre Liebe, ihre Angst, ihr Haß, ihr Mitteilungsbedürfnis, ihre Schuld, ihre Feigheit...«
    »Es läutet!«
    »Was ist?« fragte er herausgerissen und mit einer bösen Falte zwischen den dunklen Augenbrauen.
    »Es hat geläutet!« sagte Margot.
    »Unsinn! Ich habe nichts gehört.«
    Aber in diesem Augenblick schepperte die dünne Glocke unten zum zweitenmal. Und fast gleichzeitig begann der Kessel zu pfeifen.
    »Also geh schon und schmeiß ihn oder sie oder alle beide hinaus. Ich mache inzwischen den Kaffee. Aber hörst du, Lutz, daß du mir niemand herauf schleppst! Ich habe mich darauf gefreut, mit dir allein zu sein, und außerdem langt der Kuchen nur für zwei!«
    Er fuhr sich durch die Haare, als müsse er sich gleichzeitig ein Spinnweb von den Augen wegreiben, und ging ein wenig taumelig zur Tür. Margot stellte den Filter in die Kanne, schüttete vier gehäufte Eßlöffel Kaffee und eine Prise Salz in die Filtertüte und goß das sprudelnde Wasser darüber. Dabei lauschte sie nach unten und atmete erleichtert auf, als sie Lutz allein die Treppe emporsteigen hörte. Er ließ sich dabei Zeit.
    »Wer war es?« fragte sie, als er wieder ins Zimmer trat. Sie sah nur flüchtig, daß er einen Brief oder einen Zettel in der Hand hielt, da sie gerade dabei war, den Kaffee noch einmal zu überbrühen.
    »Der Briefträger — das heißt: der Telegrammbote.« Er hielt das gelbe Depeschenkuvert zwischen den spitzen Fingern, wie ein Insekt, von dem er nicht ganz sicher war, ob es harmlos sei oder ihn stechen könne.
    »Ein Telegramm...«, murmelte er, »wer kann mir schon telegrafieren?«
    »Ich an deiner Stelle würde den Umschlag ja wenigstens einmal aufmachen!« meinte sie resolut und nicht allzu neugierig, denn Telegramme
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