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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt
Autoren: Don DeLillo
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nach der du dich sehnst, weil du ein Zeichen brauchst, das sich deinen Zweifeln entgegenstellt?
    Edgar fühlt den Schmerz in ihren Gelenken, der alte Körper hängt tief in seinem Alltagsschmerz, Schmerz an den Gelenkstellen, scharf spürbare Stiche in den Verbindungen zwischen den Knochen.
    Aber sie hält das Bild im Geiste fest, das flüchtige Gesicht an der beleuchteten Wand, ihr jungfräulicher Zwilling, der zugleich ihre Tochter ist. Und sie erinnert sich an den Geruch des Flugzeugkerosins. Das ist der Weihrauch ihres Erlebnisses, verbranntes Zedernholz und Harz, ein Medium des Festhaltens, das den Augenblick intakt erhält, all die Augenblicke, die schaukelnde, seelenjubelnde Verzückung und die unausgesprochene Nähe, eine Gemeinschaft des tiefen Glaubens.
    Nichts bleibt mehr zu tun als zu sterben, und genau das tut sie. Schwester Alma Edgar, Braut Jesu, geht friedlich im Schlaf dahin, der erste, schwache Schnee eines weiteren trüben Winters fällt weich auf die unbekannten Straßen, Gestöber, Kristalle, geformte Flocken, ein blasser, schräger Schnee, der sich im Fallen auflöst.
    Tastendruck 2
    In ihrem Schleier und Habit war sie vor allem ein Gesicht oder ein Gesicht und geschrubbte Hände. Hier im Cyberspace hat sie all den dampfgebügelten Stoff abgelegt. Sie ist nicht richtig nackt, aber sie ist offen – jeder Verknüpfung ausgesetzt, die man im weltweiten Web herstellen kann.
    Es gibt weder Raum noch Zeit hier draußen oder hier drinnen oder wo immer sie ist. Es gibt nur Verknüpfungen. Alles ist verknüpft. Alles menschliche Wissen gesammelt und verbunden, hyperverbunden, diese Site führt zu jener, dieses Faktum querverweist auf jenes, ein Tastendruck, ein Mausklick, ein Paßwort – Welt ohne Ende, Amen.
    Aber sie ist im Cyberspace, nicht im Himmel, und sie spürt den Zugriff der Systeme. Deshalb ist ihr so unbehaglich. Sie spürt eine Präsenz, etwas Angedeutetes, etwas Weites und Helles. Sie spürt die Paranoia im Web, im Net. Zunächst natürlich die ewige Bedrohung durch ein Virus. Schwester Edgar weiß alles über Ansteckung und die erforderlichen Schutzmaßnahmen. Doch dies ist anders – es ist ein Leuchten, eine strahlende, drängende Kraft, die von einer Milliarde ferner Netzknoten auszuströmen scheint.
    Als du spontan beschließt, die Homepage der H-Bombe aufzusuchen, begreift sie allmählich. Alles in deinem Computer, Plastik, Silikon und Mylar, jede logische Operation und Verarbeitungsfunktion, der Speicher, die Hardware, die Software, die Einser und Nullen, die Triaden innerhalb der Pixel, die das Bildschirmbild ergeben – das alles kulminiert hier.
    Zuerst eine Dämmerung, eine große, glorreiche Morgenröte, die sich auf dem Farbmonitor zusammenballt. Jede thermonukleare Bombe, die je getestet wurde, all die Daten, die von jedem Abschuß gesammelt wurden, Codenamen, Sprengkraft, Testgelände, Eniwetok, Lop Nor, Nowaja Semlja, die Fremdheit und Andersartigkeit entlegener Völker, die durch die Ortsnamen angedeutet werden, Mururoa, Kasachstan, Sibirien, und die Girlanden aus außergewöhnlichen Details, Zündungs- und Trägersysteme, Gleichungen und Graphen und Wirkungsquerschnitte, Detonation auf Detonation mit einem Klick, einem Knopfdruck aufzurufen, Bravo, Romeo, Greenhouse Dog – und Schwester Edgar ist im Grunde genommen da drin.
    Sie sieht den Blitz, die Hitzewelle. Sie hört, wie sich das Donnern aufbaut, sich die große Energie sammelt und aus der 16-bit-Klangkarte rollt. Sie steht im Blitz und fühlt die Kraft. Sie sieht, wie sich alles fedrig auffächert. Sie sieht den emporsteigenden Feuerball, die überhitzte Kugel aus verbrennendem Gas, die einen Menschen mit ihrer Schönheit blenden kann, die Farben, tropfendes Christenblut, Sonnengold und Sonnenrot. Sie sieht die Druckwelle und hört die hohen Winde und spürt die Kraft des falschen Glaubens, des Glaubens an die Paranoia, und dann breitet sich die Pilzwolke rings um sie aus, die pulverisierte Masse aus radioaktiven Trümmern, fünfzehn Kilometer hoch, zwanzig Kilometer, dreißig, mit geschwungenem Stiel und rauchendem Platinhut.
    Die Edelsteine rollen ihr aus den Augen, und sie sieht Gott.
    Nein, halt, Entschuldigung. Sie sieht gerade eine sowjetische Bombe, mit der größten Sprengkraft der Geschichte, gezündet 1961 über dem Arktischen Meer, aufbewahrt in dem Computer, der mitgeholfen hat, sie zu bauen, achtundfünfzig Megatonnen – addierst du die Zahlen, hast du dreizehn.
    Ganze Völkerscharen aus potentiellen
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