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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt
Autoren: Don DeLillo
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verlassen worden und ein oder zwei schwanger sind, Ausreißer, Ausrangierte – wie er ihnen Verantwortungs- und Selbstwertgefühl gibt? Und hilft er nicht den Nonnen dabei, die Hungernden zu speisen?
    Sie mustert ihn, ob er Spuren aufweist, frühe Anzeichen des Verfalls. Dann späht sie verstohlen aus dem Fenster, in der Hoffnung, das immer wieder entwischende Mädchen zu entdecken. Schwester Edgar hat die Kleine ein paarmal von diesem Fenster aus gesehen, fast immer rennend. Rennen ist ihre Beschäftigung. Ihre Schönheit und Sicherheit zugleich, ihre melodiöse Hoffnung, ein besonderes Verdienst, eine Reinigung, der vergängliche Laubfall von etwas Göttlichem, das durch die Welt schwebt.
    Zwei der Charismatiker kommen herein, sie wollen fernsehen. Sie kommen aus dem obersten Stock, sie leiten die einzige Kirche an der Mauer, eine Pfingstler-Gemeinde, die danach trachtet, das Geschenk des Heiligen Geistes zu empfangen, Hand auflegen, in Zungen reden, prophezeien – das ganze Schaukelgaukelpaket, vor dem Edgar nur weglaufen und sich verstecken möchte.
    Natürlich gucken die sie auch ein bißchen scheel an.
    Ismael bestimmt vier aus seiner Crew, die die Nonnen begleiten sollen, um Essen in der Gegend zu verteilen. Aber die Crew sitzt wie angewurzelt da, gerade jetzt. Sie drängen Juano, schneller zu treten, weil man nur dann umschalten kann, und sie wollen lieber einen Zeichentrickfilm oder einen Spielfilm sehen, irgendwas mit laufenden Bildern statt bloß einen Kopf.
    Sie sagen, »Los, Mann, mach schneller, ey.«
    Der Fahrradjunge krümmt sich und strampelt, und das Bild zittert kurz, springt dann wieder zurück zu dem runden Gesicht des Ansagers und den durchlaufenden Zeilen mit den Preisen. Ismael steht lachend da. Er liebt die Sprache des Kaufens und Verkaufens und den Anblick dieser Buchstabengruppen, die für riesenhafte Konzerne mit ihren Jets und Limousinen und Tankerflotten stehen. Er zerrt jetzt einzelne Kids von dem kissenlosen Sofa und katapultiert sie auf die Tür zu, während die anderen und die labernden Charismatiker Juano weiter antreiben.
    Sie sagen, »Schneller, ey, schneller, sei ein Mann.«
    Der Junge strampelt und rackert, hüpft auf dem Sitz, aber die Zahlen ziehen weiter über den Bildschirm. Elektronik leicht anziehend, Transport nachgebend, Industrie mehr oder weniger unverändert.
    Drei Wochen später sitzt Edgar in dem Kleinbus und sieht, wie ihre Partnerin aus dem roten Backsteinkloster kommt – rollender Gang, kurze Beine, stämmiger Körper. Gracies Gesicht ist abgewandt, als sie sich um die Vorderseite des Fahrzeugs herumschiebt und die Tür auf der Fahrerseite öffnet.
    Sie steigt ein und packt das Steuerrad, starrt geradeaus.
    »Ich hab einen Anruf von der Polizeiwache bei der Mauer bekommen.«
    Dann greift sie nach der Tür und schließt sie. Sie packt das Steuerrad wieder.
    »Jemand hat Esmeralda vergewaltigt und von einem Dach geworfen.«
    Sie läßt den Motor an.
    »Ich sitze da und denke, Wen schlag ich tot?«
    Sie schaut Edgar kurz an, legt dann den Gang ein.
    »Denn das ist die einzige Frage, die ich mir stellen kann, ohne in Verzweiflung zu geraten.«
    Sie fahren südwärts durch kleine Straßen, die Backsteinhäuser leicht dunstig im Morgenlicht. Hat Edgar gewußt, daß das passieren würde? In letzter Zeit hat sie es in den Knochen gehabt, doch. Sie fühlt Gracies Wut und Schmerz wie einen Wetterumschwung. Vor kurzem war sie auf das Mädchen zugegangen, Gracie, und sie hatte aus einiger Entfernung mit ihm gesprochen, eine Tüte mit Essen und Kleidern in die wilden Kermesbeeren geworfen, wo Esmeralda stand. Sie legen den ganzen Weg schweigend zurück, während die alte Nonne im Geist Fragen und Antworten aus dem Baltimore-Katechismus aufsagt. Die Kraft dieser Übungen, die eine Form des Dauergebets sind, ruht in den Stimmen, die ihre eigene begleiten, Kinderstimmen, die über Jahrzehnte hinweg antworten, silbengenau, eine Panflötenantwort, die klare Musik ihres Lebens. Frage und Antwort. Was für einen tieferen Dialog könnte ein aufrechter Kopf ersinnen? Sie legt ihre Hand auf Gracies Hand am Steuerrad und läßt sie dort liegen, ein digitales Ticken lang auf der Uhr am Armaturenbrett. Wer hat uns erschaffen? Gott hat uns erschaffen. Diese wachäugigen Gesichter voller Glauben. Wer ist Gott? Gott ist das höhere Wesen, das alle Dinge erschaffen hat. Ihre Arme sind müde. Ihre Arme sind schwer und tot, und sie hat sich bis zur Lektion 12 vorgekämpft, als die
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