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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt
Autoren: Don DeLillo
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Sozialbauten am Horizont auftauchen, die oberen Fenster weiß vom Spiel der Sonne in dem breiten, dunklen Gesicht des erschöpften Steins.
    Als Gracie schließlich spricht, sagt sie, »Es ist immer noch da.«
    »Was ist immer noch da?«
    »Das Klopfen im Motor. Hörst du's? Hörst du's?«
    »Ich höre gar nichts.«
    »Ku-ku. Ku-ku.«
    Dann fährt sie den Kleinbus an den Sozialbauten vorbei auf die bemalte Mauer zu.
    Als sie ankommen, ist der Engel bereits auf die Wand gesprayt. Eine geflügelte Gestalt in einem rosa Sweatshirt und rosa und grünblauen Hosen und einem Paar Nike Air Jordan in Weiß, mit auffälligem Logo – sie war eine Läuferin, also bekommt sie Läuferschuhe. Und Klein-Juano baumelt immer noch an einem Seil, vom Dach mit der alten, handbetriebenen Winde heruntergelassen, mit der die Crew auch Autos auf ihren offenen Lkw hievt. Ismael und andere beugen sich über das Sims, versuchen, ihm alles korrekt vorzubuchstabieren, während er an die Mauer schaukelt und wieder weg, sich vorbeugt, um die ineinander verschlungenen Lettern hinzusprayen, die die große, vergangene Ära der wild style- Graffiti geprägt haben.
    Die Nonnen stehen neben dem Kleinbus und schauen dem Jungen zu, als er das letzte der wenigen Wörter beendet, dann sehen sie, wie er in dem schneidenden Wind himmelwärts gerissen wird.
    Esmeralda Lopez
    12 Jahr
    Beschüzt im Himel
    Als sie im zweiten Stock ankommen, raucht Ismael eine Zigarre, die Arme vor der Brust verschränkt. Gracie tigert auf und ab. Sie weiß anscheinend nicht, wo sie anfangen soll, wie sie das Unsägliche ansprechen soll, das irgend jemand diesem Kind angetan hat. Diesem Kind, das sie doch retten wollten. Sie tigert auf und ab, sie ballt die Fäuste.
    Sie hören das Auspuffstöhnen eines Linienbusses, der einige Straßen weiter vorbeifährt.
    »Ismael. Du mußt herausfinden, wer der Kerl ist, der das getan hat.«
    »Glaubst du, ich bestimme hier? Bin ich vom LAPD ?«
    »Du hast Kontakte hier im Viertel wie niemand sonst.«
    »Was für ein Viertel? Das Viertel ist da drüben. Hier ist die Mauer. Ich kann grade mal die Kinder dazu kriegen, daß sie ein Wort richtig schreiben, wenn sie es hinsprayen. Zu meiner Zeit haben wir U-Bahnwagen im Dunkeln bemalt, und kein Buchstabe war verschrieben.«
    »Richtig schreiben, wen kümmert's?« sagt Gracie.
    Edgar hat das früher gekümmert, heute nicht mehr, vielleicht nie wieder. Sie fühlt sich schwach und verloren. Der große Schrecken ist weg, der große Schattenwerfer abgebaut – das in den Himmel geschossene Objekt, benannt nach einer griechischen Göttin auf einem Kelchkrug, 500 v. Chr. Der Schrecken ist heutzutage nur noch lokal. Ein lautes Geräusch auf dem Bürgersteig ganz in der Nähe, das Stottern gelegentlicher Schüsse aus einem vorbeifahrenden Auto, jemand, der dein Kind entführt. Alte Ängste wiederbelebt, die rauben mir mein Kind, die kommen in mein Haus, wenn ich schlafe, und schneiden mir das Herz heraus, weil sie mit Satan in Verbindung stehen.
    Sie spricht ein verzweifeltes Gebet.
    O Herr, wir flehen zu dir, gieß aus deine Gnade in unser Herz.
    Zehn Jahre Ablaß, ein Superknaller, wenn das Gebet im Morgengrauen, am Mittag und am Abend gesprochen wird, oder baldmöglichst danach.
    Eines der Mädchen, kurz Willie genannt, strampelt auf dem Fahrrad, und sie ruft ihnen zu, hey, hier, guckt mal, und sie versammeln sich vor dem Fernseher und stehen erstaunt da. Der Mord ist in den Nachrichten, ihr Mord, er wird von einem der verdammten Großsender gebracht, CNN – die Tragödie eines obdachlosen Kindes, sein Leben und sein Tod. Die Crew ist verblüfft, daß die Mauer gefilmt worden ist, zweieinhalb Sekunden wird das Haus gezeigt, in dem sie gerade sind, die Fassade mit den gesprayten Engeln, die überwucherten Lots mit ihren Höhlen für Fledermaus und Eulen. Alle glotzen und tuscheln, aufgeladen mit einer Art zweitem Blick, die Dinge, die sie so gut kennen, nun von innen nach außen gekrempelt zu sehen, neu und landesweit. Sie stehen da, anderen Leuten aufs Auge gedrückt. Dann kommt die Moderatorin. Sie schreien Willamette zu, sie soll schneller treten, Mann, denn das Bild wird schwächer, und das elektrischrote Haar der Moderatorin zerläuft in einem leuchtenden Ring um ihren Kopf, was sie nur noch erstaunlicher macht, und mit glockenheller Jungfrauenstimme beschreibt sie ihnen, wie sie leben, diese Frau sieht derart auffällig aus, daß sie sich die Nachrichten aneignet, und Willie trampelt sich die Seele
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