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Unterwegs im Namen des Herrn

Unterwegs im Namen des Herrn

Titel: Unterwegs im Namen des Herrn
Autoren: Thomas Glavinic
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liefern.
     
    »Jesus!«, schreit der Schweizer.
    Ich strecke den Kopf aus meiner Jacke und schaue verschlafen aus dem Fenster. Es ist stockfinster, rund um uns zucken Blitze. Wo es aufklart, ist heftiger Regen zu sehen.
    »Wo sind wir?«
    Ingo kommt nicht dazu zu antworten, denn der Pilot macht eine Durchsage, diesmal nur auf Englisch. Die Gewitter sind zurück am Flughafen Wien, doch der Ausweichflughafen Bratislava ist geschlossen, und um einen anderen zu erreichen, haben wir nicht mehr genug Sprit. Wir gehen jetzt runter.
    »Allmächtiger«, sagt der Schweizer.
    »Klingt super«, sagt Ingo.
    »Machen Sie sich keine Sorgen«, sage ich zum Schweizer. »Ich habe Flugangst, ich kenne mich aus.«
    Er sieht mich über die Schulter hinweg erstaunt an, allerdings nur kurz, dann steckt er seine ineinander verkrampften Hände wieder zwischen die Oberschenkel.
    »Wollen Sie telefonieren?«, fragt Ingo und zieht sein Handy heraus. »Vielleicht noch mal jemanden anrufen …«
    Ich nehme ihm das Telefon weg und entschuldige mich bei dem Schweizer, der uns als Arschlöcher beschimpft. Ich schalte meinen iPod ein. Selbst durch die Musik hindurch vernehme ich die zunehmende Unruhe unter den Passagieren. Ich habe das Glück, so stoned zu sein, dass mich die Situation keineswegs beunruhigt. Ich weiß einfach, dass alles gut wird. Wenn da nicht die Gospa wäre, würde ich einschlafen und erst wieder erwachen, wenn das Flugzeug steht. So bleibt ein Rest Unsicherheit.
    Es würde verdammt gut passen. Geboren in Graz, gestorben in Medjugorje. In Medjugorje bin ich ihr entwischt, aber aus diesem Flugzeug kann ich nicht raus, hier hat sie mich in der Hand, und technisch gesehen bin ich nach wie vor in Medjugorje, denn die Wallfahrt ist noch nicht zu Ende.
    Ingo zieht seine Kamera heraus und macht Fotos vondem Spektakel, das sich rund um das Flugzeug abspielt. Einmal knallt ihm ein Luftloch den Apparat gegen das Kinn. Er steckt die Kamera weg und schießt mit dem Handy weitere Fotos.
    Plötzlich geht es steil abwärts. So steil, dass mir die Xanor auch nicht mehr viel hilft. Ich murmle ein kurzes Gebet, das ich seit Jahren vor Start und Landung spreche, und bekomme schwitzige Hände. Der Schweizer schreit, was die Sache nicht besser macht.
    Ich winke einer Flugbegleiterin, damit sie sich um den Mann kümmert. Tatsächlich treibt sie einen anderen Platz für die Frau vor mir auf und setzt sich neben den Schweizer. Wegen der Musik verstehe ich nichts von ihrer Unterhaltung, aber ich nehme an, sie redet beruhigend auf ihn ein. Ich drehe die Musik noch lauter, und ich höre das aggressivste Zeug, das ich in der Eile finden kann. Ingo macht Fotos, von draußen, von den Passagieren, von mir, von sich selbst.
    Er rüttelt mich. Ich schalte die Musik aus.
    »Wir sollten unsere Pilgerpässe umhängen«, sagt er. »Vielleicht nützt es was.«
    Ich konzentriere mich darauf, keine Angst aufkommen zu lassen, und wiederhole mein Gebet, sicher ist sicher. Den Gurt schnalle ich etwas fester, die Tasche schiebe ich mit den Füßen unter den Vordersitz. Die zweite Flugbegleiterin schwankt über den Gang und kontrolliert, ob alle Gurte geschlossen, alle Sitze in der richtigen Position und alle Tischchen hochgeklappt sind. Ihr Lächeln strahlt Gelassenheit aus. Sie bittet die Kollegin, die immer noch vor mir bei dem Schweizer sitzt, ihr zu helfen. Der Wind verpasst dem Flugzeug eine heftige Ohrfeige, und ich bekomme den Hintern der ersten Flugbegleiterin ins Gesicht. Für großeEntschuldigungsszenen hat sie keine Zeit, sie turnt nach hinten weiter.
    Plötzlich fällt das Licht aus. Ich versuche, das Licht über meinem Sitz einzuschalten, es geht nicht.
    »Himmel hilf!«, schreit der Schweizer.
    »Der kann einen schon nervös machen«, raune ich Ingo zu.
    »Was? Wer kann einen nervös machen?«, schreit Ingo.
    »Du!«, schreie ich.
    Im nächsten Moment geht es abwärts. Kein Sturzflug, aber die Maschine senkt die Nase und bohrt sich nach unten in eine Wolke, so dass ich den Eindruck habe, mein Magen würde gegen meinen Kehlkopf schlagen. Eine Frau irgendwo hinter mir schreit, ein Mann auf der anderen Seite wimmert, ansonsten ist es gespenstisch still. Ich habe so etwas schon mal erlebt, auf einem ziemlich wilden Flug von London nach Wien, und rede mir ein, das hier sei nichts Außergewöhnliches. Tatsächlich hebt sich die Nase des Flugzeuges wieder, und meine Hände entkrampfen sich.
    »Alles okay?«, fragt Ingo.
    »Teils, teils.«
    Plötzlich ist das Licht
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