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Unterwegs im Namen des Herrn

Unterwegs im Namen des Herrn

Titel: Unterwegs im Namen des Herrn
Autoren: Thomas Glavinic
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Medjugorje. Ich kann Ingo sehen und rudere mit den Armen, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Zwecklos. Ich rufe ihn an.
    »Wo sind die Antibiotika?«
    Er löst seinen Blick einen Moment lang von dem Regal mit den Schnapsflaschen und schaut zu mir herüber. »Wie sehen die aus?«
    »Eine Tablettenschachtel. Vier Ecken. Schrift darauf.«
    »Könnten im Koffer sein.«
    »Könnten?«
    »Wenn sie nicht in deiner Tasche sind, werden sie im Koffer sein.«
    »Ich verstehe. Okay. Was soll ich dir kaufen?«
    »Ein Sandwich und ein Bier.«
    »Schau dir mal die Schlange an.«
    »Zwei Bier.«
    Während ich mir die Beine in den Bauch stehe, sehe ich zu, wie sich Ingo an der Kasse des Duty-free-Shops ebenfalls die Beine in den Bauch steht. Ich kann deutlich erkennen, wie die Emotionen in ihm hochkommen, wie es unter seinem Auge zuckt, wie er die Umstehenden stumm und mit seinem Feuerblick in Grund und Boden verdammt. Ungefähr so habe ich mir immer den Teufelsgeiger Paganini vorgestellt.
    In keiner der beiden Schlangen geht es spürbar voran. Ich schreibe meiner Frau eine SMS . Sie findet alles sehr lustig und freut sich, dass ich nach Hause komme. Vermutlich finden das alle meine Freunde lustig. Ich nicht.
    Nach zwanzig Minuten suche ich gelangweilt in meiner Tasche nach einer Ablenkung. Außer den religiösen Erbauungsschriften und dem Laptop, den ich hier in der Menschenmasse nicht gebrauchen kann, finde ich nur ein Tantramagazin, das mir Ingo irgendwann untergejubelt haben muss. Ich fische eine der Broschüren heraus.
     
    EUCHARISTISCHER HYMNUS
    Refrain: Nehmet den Leib des Herrn, trinket an der Quelle des Lebens.
    Wir beten an den heiligsten Leib Christi, des Lamm Gottes, den heiligsten Leib dessen, der sich für unser Heil dahingegeben hat.
    Den heiligsten Leib dessen, der seine Jünger beschenkt hat, mit den Geheimnissen des Neuen Bundes.
    Den heiligsten Leib, durch den wir das unblutige Opfer empfangen haben, den heiligsten Leib des Hohenpriesters, der über die Himmel erhoben ist.
    Den heiligsten Leib, der die Sünderin freigesprochen hat, den heiligsten Leib, der uns durch sein Blut reinigt.
    Den heiligsten Leib, der die Füße seiner Jünger mit Wasser gewaschen hat, den heiligsten Leib dessen, der ihr Herz mit dem Geist gereinigt hat.
     
    Die fassungslosen Blicke der Frau, die neben mir steht, geben mir den Rest. Ich nehme mein iPhone und mache mich bei Angry birds auf Rekordjagd. Zusätzlich stecke ich mir Kopfhörer ein und drehe die Tindersticks laut auf.
    Langsam rücke ich vor, sehr langsam. Gerade als Ingo neben mir auftaucht und mir anzeigt, dass er uns einen Platz suchen geht, komme ich an die Reihe. Ich bestelle zwei Sandwichs und vier Bier und nehme für mich einen Kaffee dazu. Das alles wird auf ein winziges Tablett vor mich hingeknallt, und so stecke ich die Sandwichs in die Tasche und balanciere Flaschen und Tasse durch einen Pulk genervter, schwitzender Menschen zu Ingo, der zwar keinen freien Tisch, aber immerhin einen Stehplatz von dem Durchmesser eines Quadratmeters ergattert hat.
    Wir wechseln uns ab. Erst isst Ingo, und ich halte dasTablett, dann bin ich mit Essen an der Reihe. Das Sandwich hat den Geschmack und die Konsistenz eines Tafelschwamms. Geredet wird nicht viel. Meine Nase schmerzt nun mehr als nach dem Aufwachen. Ich spüre das Fieber, aber es ist nicht so hoch wie gestern. Und ich schwitze stark, was mich deprimiert, weil ich das Gefühl habe, dass ich das schon seit Tagen, vielleicht seit Wochen unaufhörlich tue, ich muss gar kein Fieber dazu haben.
    »Ingo, wie rieche ich?«
    »Woher soll ich das wissen?«
    »Schnupper mal!«
    »Du könntest riechen wie ein brünftiger Elch, und ich würde es nicht merken. Hier stinkt alles und jeder!«
    Ich kippe die bittere Brühe, die mir die Serviererin als Kaffee angedreht hat, in einem Zug hinunter und folge Ingo, der einen freien Lehnplatz an einem der Geländer erspäht hat. Die Situation scheint immer schlimmer zu werden. Ringsum stehen, drängen, hüpfen Männer und Frauen, auch Familien mit Kindern. Es gibt Tumulte, es gibt Geschrei, es gibt Handgreiflichkeiten. Die Leute wischen sich die Stirn und fächeln sich Luft zu.
    Ein Mann löst sich aus der Schlange vor dem Büfett und läuft zu seinem Gate, wo das Bodenpersonal das Boarding bereits beenden will. Er knallt der Frau in Uniform seinen Boarding Pass auf den Schalter und brüllt: »Hier!« Die Frau reagiert entsprechend, und als sich der Deutsche noch mehr aufregt, nähern sich
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