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Unterwegs im Namen des Herrn

Unterwegs im Namen des Herrn

Titel: Unterwegs im Namen des Herrn
Autoren: Thomas Glavinic
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Securityleute. Im letzten Moment erkennt er den Ernst der Lage. Er brüllt etwas von Sauladen und verschwindet in dem Gang, der ihn zum Flugzeug bringt. Noch eine ganze Weile hört man ihn schreien.          
    »Wer könnte ihn nicht verstehen«, sagt Ingo verträumt.
    Mir ist schwindlig und schlecht. Ich setze mich auf den schmutzigen Boden und sehe zu, wie Beine an mir vorbeistampfen. Ich atme tief ein und aus. Die Xanor wirkt nicht so, wie sie sollte. Ich habe Angst vor dem Flug, ich habe Angst vor einem Herzstillstand, ich habe Angst vor allem und jedem. Ich sehe ungepflegte nackte Füße. Ich höre Deutsche und Österreicher reden, sie sprechen grob. Mich ekelt es vor den Menschen. All die, die sich damit zufriedengeben, sich wie Tiere zu gebaren, widern mich an, und die, die sich im Göttlichen verlieren, können mir auch nicht helfen. Ich selbst widere mich am meisten an, verschwitzt, krank und planlos, wie ich bin.
    Aus meiner Tasche hole ich mein letztes warmes Bier. Die Broschüren geraten mir erneut in die Finger. Ich widerstehe der Versuchung, eine herauszuholen und mich an weiteren Gottesgesängen zu erbauen. Ich will einfach nur leben. Oder vielleicht auch sterben, aber ich will definitiv nicht dieses Dazwischen.
    »Ich frage mich, was die jetzt machen«, spricht Ingo zu mir herab. »Ob die gerade im Bus sitzen? Was sie sich wohl in diesem Moment ansehen? Oder gibt es gerade ein Schulungsvideo? Wird jemand zu Tode gefoltert? Weinen alle und freuen sich? Ohne uns?« Er reibt sich schadenfroh die Hände.
    »Sag mir lieber, wie es Tanja geht«, krächze ich. »Steht sie schon mit dem Klinikkoffer an der Wohnungstür?«
    »Siehst du, der muss ich schreiben.«
    Er holt wahrscheinlich sein Handy aus der Tasche. Ich sehe nicht, was er tut, weil er oben ist und ich unten und ich für kein Geld der Welt meinen Kopf heben würde.
    »Wahnsinn, sieh dir diese Uhren an«, sagt er. »Woher haben die Leute so viel Geld?«
    »Fängst du jetzt auch schon an wie Dragica?«
    »Ich bin kein Materialist und Tanja zum Glück auch nicht. Wenn Tanja die Wahl hätte zwischen einer Rolex um die 20 000 Euro und einem Abendessen um die 20 000 Euro, was glaubst du, was sie nehmen würde?«
    »Na?«
    »Sie nimmt das Essen«, sagt er energisch. »Und gut so.«
    »Meine nimmt die Rolex«, sage ich. »Und gut so.«
    »Weißt du was, ich glaube, ich habe mich nüchtern gesoffen.«
    »Ich mich auch«, sage ich zu seinen Oberschenkeln. »Das kommt vor.«
    »Ich treibe uns noch was auf.«
    Ich bleibe allein zurück. Ich schreibe eine SMS an meine Frau. Ich schlinge die Arme um die Beine, lege den Kopf auf die Knie und döse weg.
    Von der Kälte erwache ich. Ingo hält mir eine Flasche Bier an die Schläfe. Erst jetzt merke ich, dass mir vom Schlag der Pistole an der Stirn eine Beule gewachsen ist. Ich nehme die Flasche und presse sie mir dagegen. Wie nebenbei trinke ich das Bier, die Xanor wirkt endlich.
    Ingo bringt mir noch eine Flasche. Wie durch Schaumstoff höre ich ihn reden, und es dauert eine Weile, bis ich den Sinn seiner Worte erfasse.
    »Blasensprung. Auf dem Weg ins Krankenhaus.«
    »Mach keinen Scheiß«, sage ich.
    »Da, lies!«
    Es stimmt. Tanja wurde gerade ins Krankenhaus gebracht. Alles ist so weit in Ordnung, aber sie kriegt demnächstihr Kind, und ich habe einen hüpfenden Gorilla über mir.
    »Ingo, das dauert! Bei uns waren es vierzehn Stunden vom Blasensprung bis zur Geburt! Du kommst rechtzeitig!«
    »Ja, wenn dieser Flieger pünktlich ist!«
    »Wieso sollte er das nicht sein?«
    »Weil hier kein Flieger pünktlich ist! Schau doch mal auf die Anzeigetafeln! Delay, delay, delay! Halbe Stunde hier, eine Stunde da, eine Dreiviertelstunde dort, bei uns werden es zwei Stunden sein! Nehmen wir ein Taxi? Im Ernst, nehmen wir ein Taxi!«
    »Ganz ruhig jetzt. Rechne nach. Du bist selbst mit einem verspäteten Flugzeug schneller als mit einem Taxi.«
    »Nicht, wenn das Flugzeug ausfällt!«, brüllt er und tippt wild an seinem Handy herum.
    »Es wird nicht ausfallen!«
    »Herrgottnochmal«, schreit er, »mein ganzes Leben besteht aus Warten! Ich warte auf mein Flugzeug, ich warte auf mein Gepäck, ich warte auf Fototermine, ich warte auf das Essen im Restaurant, ich warte auf meinen Kaffee, ich warte darauf, dass ich die Kinder aus der Schule holen darf, ich warte auf Tanja, ich warte auf Verwandte, ich warte auf die Post, ich warte auf Anrufe, ich warte auf ganz normale Dinge, die längst passiert sein sollten,
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