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Unterwegs im Namen des Herrn

Unterwegs im Namen des Herrn

Titel: Unterwegs im Namen des Herrn
Autoren: Thomas Glavinic
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1. Kapitel
    Der erste Eindruck – Schüchtern im Reisebus – Äpfel und Postkarten – Aussteigen oder bleiben – Der Reiseleiter – Ingo wird laut – »Klo? – Einen halben Euro!«
     
    Sechs Uhr früh ist eine Uhrzeit, die ich sonst nur von der anderen Seite her kenne. Dabei genieße ich es zu erleben, wie die Stadt aufwacht. Die Vögel singen, der Verkehr schwillt langsam an, die Luft ist nachtklar, es sind wenige Menschen auf der Straße. Aber im Moment bin ich für diese Idylle nicht so empfänglich wie sonst. Gerade habe ich mich am Westbahnhof abgehetzt, um eine für vierzehn Stunden Fahrt ausreichende Menge an Proviant aufzutreiben, nun sitze ich inmitten verschlafener Menschen in einem nicht mehr ganz neuen Reisebus, der mich und die anderen Pilger von Wien nach Medjugorje bringen wird, wo täglich die Muttergottes erscheint, an die ich leider nicht glaube.
    Eigentlich wollte ich nach Lourdes fahren, aber da dauern sowohl Fahrt als auch Aufenthalt noch länger, und man muss es ja nicht übertreiben. Medjugorje ist vielleicht nicht so überfüllt, das war mein Gedanke, und – die Reise kostet inklusive Unterkunft und Verpflegung nur 260 Euro, Lourdes indes mehr als das Doppelte.
    Ich sitze in der zweiten Reihe. Mit einigen Mitpilgern habe ich bereits auf dem Parkplatz ein paar Sätze wechseln können, und ganz geheuer sind sie mir noch nicht. Ein Umstand, dem ich keine große Bedeutung beimesse, weil esihnen vermutlich umgekehrt nicht viel anders gehen wird und ich überdies ein schüchterner Mensch bin, was mir allerdings niemand glaubt. Mit verschränkten Armen werfe ich also diskrete Blicke auf die Leute, die sich grußlos an mir vorbei nach hinten schieben.
    Da wäre zum Beispiel der Kappenmann. Er ist etwa achtzig. Scheint kein gebürtiger Österreicher zu sein, eher irgendwoher aus dem Osten zu stammen. Er hat einen stechenden Blick und murmelt vor sich hin. Hinter ihm tapst ein Mensch einher, der wie ein rustikaler Postangestellter aussieht. Es folgt ein Mann mit langen blauschwarzen Haaren wie sie Indianer tragen, zumindest habe ich mir Winnetous Vater Intschu-Tschuna immer so vorgestellt. Er isst eine Wurstsemmel und macht kein Geheimnis daraus. Dann ein Liliputaner mit einem Silberkreuz um den Hals, das fast seinen ganzen Oberkörper bedeckt. Oder ist es ein Zwerg und kein Liliputaner? Worin lag noch einmal der Unterschied?
    Nach dem Liliputaner kommt eine stark gehbehinderte alte Frau, die Zentimeter für Zentimeter von einer dunkelhaarigen, sehr stämmigen Dame nach hinten geführt wird. Hinter ihnen bildet sich ein Stau. Vier Frauen blicken zu Boden, allem Anschein nach eine Mutter mit ihren Töchtern. Die Mutter ist Mitte sechzig, die Töchter um die dreißig, sie setzen sich in die Reihen neben Ingos und meiner. Ich nicke ihnen zu. Sie schauen schnell weg.
    Eine entsetzlich schielende Frau mit dicker Brille gibt mir eine Postkarte aus Mariazell und einen Apfel. Sie teilt Äpfel und Ansichtskarten an alle Mitpilger aus, und ich beobachte, wie sie anschließend ihren leeren Rucksack umständlich verstaut und sich in die letzte Reihe setzt.
    Ingo starrt die Karte an.
    »Stimmt etwas nicht?«, frage ich.
    »Das Foto habe ich gemacht!«
    »Ja und?«
    »Ich habe nie Tantiemen dafür gekriegt!«
    »Wann warst du in Mariazell?«
    »Bitte erinnere mich nicht daran.« Er beißt in den Apfel. »Schmeckt gut.«
    »Du ISST den?«
    »Na, wieso denn nicht?«
    »Du weißt doch gar nicht, was die damit vorher gemacht hat!«
    »Nichts Besonderes wohl. Isst du nie Äpfel?«
    »Eigentlich nicht. Den hier jedenfalls nicht.«
    Ingo schüttelt den Kopf und beißt noch mal krachend in den Apfel. Er hat einen Kampfkiefer, der jedem Nussknacker Ehre machen würde, es spritzt, kleine Stücke fliegen herum, es ist wie eine Mini-Detonation, die die vier Frauen auf der anderen Seite des Ganges noch starrer geradeaus blicken lässt.
    Dass ich heute hier sein werde, weiß ich seit Wochen. Ich will sehen, welche Menschen Pilgerreisen unternehmen, und ich will erfahren, wie es auf einer solchen Reise zugeht. Ich will Menschen in ihrem Glauben erleben, vielleicht auch, weil ich sie irgendwo tief in mir darum beneide. Ich bin nicht gläubig, bin es nie gewesen, doch der Trost, den Menschen aus ihrem Glauben ziehen, fasziniert mich und nötigt mir manchmal die Frage auf, wieso er mir versagt bleibt.
    Eine Pilgerreise zu unternehmen klang in der Theorie sehr aufregend, aber nun fürchte ich mich ein wenig. Ichhole eine
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