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Unterwegs im Namen des Herrn

Unterwegs im Namen des Herrn

Titel: Unterwegs im Namen des Herrn
Autoren: Thomas Glavinic
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wieder da. Den Schweizer beruhigt das hörbar, er preist den Herrn.
    »Der musste ja vor uns sitzen«, sage ich.
    »Unsinn«, sagt Ingo. »In jeder zweiten Reihe sitzt so einer. Wetten?«
    »Das stimmt nicht. Es ist ein kosmisches Gesetz, dass die Abnormsten in meiner Nähe sitzen. Ich habe Einsteins kosmologische Konstante gefunden.«
    Der Schweizer wimmert. Ich schnalle mich ab und setze mich neben ihn.
    Ingo lacht laut auf. »Was wird das jetzt?«
    »Was willst du hier?«, blafft mich der Schweizer an, die Faust halb im Mund.
    Ich schnalle mich fest. »Ganz ruhig. Ruhig atmen.«
    »Was machst du da?«
    »Ruhig atmen! Ein – aus. Ein – aus. Ein – aus. Mein Telefon ist abgeschaltet. Seines auch. Ein – aus. Ein – aus. Ich verspreche Ihnen, dass hier nichts schiefgeht. Wissen Sie, was einem Flugzeug Probleme macht, wenn es durch ein Gewitter fliegt? Die Blitze? Irrtum. Die sind dem Flugzeug egal, so wie sie dem Auto egal sind, mit dem Sie durch den Kanton Uri fahren. Hat mir immer schon im Kreuzworträtsel gefallen, Schweizer Kanton mit drei Buchstaben.«
    »Du Scheißkopf«, sagt der Schweizer und starrt mich fasziniert an.
    »Dem Flugzeug ist auch der Regen egal. Dem Flugzeug sind die Winde bis zu einer gewissen Stärke egal, hier oben sowieso, die sind nur bei der Landung relevant. Das einzige, was dem Flugzeug gefährlich werden kann, ist Hagel. Das weiß der Pilot, und er weiß, wo eine Hagelwolke ist und wo nicht. Deshalb fliegt er um die Hagelwolken herum. Hier ist weit und breit kein Hagel, hier geht bloß ein bisschen Wind. Und wenn es blitzt, dann denken Sie sich: ›Gott fotografiert seine Heiden.‹«
    Der Schweizer starrt mich weiter an, sagt jedoch nichts.
    »Ein – aus. Ein – aus. Ein – aus.«
    Der Schweizer beginnt mitzuatmen. Die Flugbegleiterin kommt vorbei und lächelt mich an. Sie öffnet den Vorhang zwischen Business und Economy und setzt sich auf ihren Platz.
    »Sehen Sie, der Vorhang muss offen sein. So wie die Fensterklappen offen sein müssen, daher müssen Sie Ihre gleich wieder öffnen, das ist nämlich verboten. Wollen Sie wissen, wieso die offen … nein, wollen Sie nicht. Ja, so ists recht. Huch, hoppla, verdammt …«
    Nun geht es wirklich steil abwärts. Mein Herz schlägt wild. Ich lächle den Schweizer krampfhaft an, aber er ist mit Atmen beschäftigt und schaut auf die Kotztüte in seiner Hand.
    »Na, da haben sich zwei gefunden«, tönt es von hinten.
    Ich zeige Ingo den Mittelfinger. Er wiehert vor Lachen. Kurz muss ich mitlachen, aber dann bockt das Flugzeug wieder, und ich kann durch das Fenster eine eindrucksvolle Blitzlandschaft erkennen. Leuchten, so weit das Auge reicht. Überall zucken Blitze über eine schwarze Leinwand. Die Turbinen brummen auf.
    »Was ist das?«, stößt der Schweizer hervor.
    »Atmen Sie. Atmen. Der Pilot gibt Zwischengas, damit wir nicht zu langsam werden. Wir landen gleich. Schauen Sie nach unten. – Mamma mia!« Es geht wieder in schneidigem Winkel Richtung Erdboden.
    »Der war früher wohl Kampfflieger«, sage ich zornig.
    Der Schweizer stöhnt. Ein paar Kinder weinen. Eine Frau auf der anderen Gangseite betet. Eine Bierstimme brüllt: »Aux armes! Nous sommes Sankt Pauli!«
    »Halts Maul!«, kreischt der Schweizer.
    Ich merke, lange halte ich diese Episode aktiver Empathie nicht mehr aus, das verdammte Ding soll landen. Mit diesen Gedanken im Kopf schaue ich wieder aus dem Fenster und sehe endlich Häuser, Straßen, Autos. Wir sind kaum tausend Meter über dem Boden.
    Die Flugbegleiterin kommt noch einmal vorbei. »Alles okay mit Ihnen?«
    Ich warte, dass der Schweizer etwas sagt, doch der schaut mich groß an und ist still. Ich hebe den Kopf und merke erst jetzt, dass die Flugbegleiterin mit mir spricht.
    »Mit mir? Ja, klar. Alles okay. Alles gut!«
    »Brauchen Sie etwas? Nein? Tief atmen, nicht vergessen, so ists recht.«
    Sie verschwindet nach hinten, und ich bin still. Ich spreche mein Gebet und warte. Das Flugzeug wird gerüttelt, sinkt, wird gerüttelt, sinkt. Ich denke an die Liebe, das ist ein wichtiger Teil meiner mentalen Vorbereitungen auf Start und Landung. Liebe als Prinzip, Liebe als bewusste Entscheidung, das ist es, woran ich in solchen Situationen denken will.
    »Tief atmen«, sagt der Schweizer zu mir. »Alles wird gut.«
    Irgendwann setzt das Flugzeug weich auf. Die Passagiere klatschen, das habe ich auch erst zweimal erlebt. Ich fühle mich zu schwach, um mitzuklatschen. Der Schweizer fasst meine
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