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Unter der Hand (German Edition)

Unter der Hand (German Edition)

Titel: Unter der Hand (German Edition)
Autoren: Dagmar Leupold
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mit einer halben Drehung wie ein Diskuswerfer, auf dem Absatz, so, als käme der Antrieb von außen. Es wird wieder heller. Vielleicht fiel mir bei seinem Anblick die Mutter ein, weil er mich ernährt. Der Versorgungsrückstand, den ich dadurch habe, dass ich nie gestillt wurde, ist nicht aufzuholen, ich kenne alle Erkrankungen und Misslichkeiten, die als Spätfolgen auftreten können. Die unmittelbaren Folgen auch: Ich bleibe ein
ungestilltes
Kind. Das erzeugt chronischen Liebeshunger. Voilà, jetzt ist es raus. Der ist ungefähr so schwer zu verbergen oder zu tarnen wie ein Bauchladen oder ein Feuermal mitten im Gesicht. Apropos Mal: Bei der Geburt hatte ich ein riesiges, schwarzes an der linken Wade, die nur so groß war wie eine kleine Möhre, und dieses schwarze Mal beraunten die Nonnen, so wurde berichtet, als Fingerabdruck des Teufels. Und das Herz war ungewöhnlich groß, im Unterschied zu allen anderen Organen, die sich richtigerweise im unreifen, unausgewachsenen Zustand von lediglich sieben, statt neun Höhlenmonaten befanden. Meine Vermutung ist, dass es sich dem genannten übermäßigen Liebeswunsch, der sich übrigens auf das Empfangen ebenso wie auf das Geben bezieht, einfach räumlich angepasst hat, indem es sich über Gebühr ausdehnte. Nein, jetzt geht der Hunger mit mir durch, nicht der Liebeshunger, aber sein Verwandter, der Erzählhunger, auch er chronisch, aber weniger peinlich. Er nimmt den Faden auf, der andernorts verlorenging. Der lose blieb. Poetisch gesagt. Prosaisch gesagt: nach Strich und Faden verratzt. Los-Pech.
    Mit dem Frieden und dem Nachdenken über die Anfänge und ihre Folgen ist es nun vorerst vorbei. Die Gruppe Schweizer Mountainbiker aus dem Berner Oberland – die Einzigen, die neben mir diesen Garten noch bewohnen – fällt ein; erst höre ich nur das Surren der Reifen, dann, auf dem letzten Stück vor dem Schwimmbad, das Knirschen der wegspringenden Steinchen, schließlich, in unmittelbarer Nähe, die Stimmen selbst. Was für ein unbarmherziger Dialekt!, ruft es in mir aus, als käme er nicht aus einer Kehle, sondern aus einem Schacht! Mit den spitz zulaufenden Helmen, die ihren Gestalten etwas Extraterrestrisches geben, könnten sie durchaus die neuen Barbaren sein. Mit einer gewissen Befriedigung leiste ich mir auch dieses Klischee, zu Trainingszwecken: Den inneren Zensor zwangsbeurlauben, schließlich bin ich hier zur Erholung. Ich öffne die Augen ganz, als ich angesprochen werde.
    – Bitte?
    Ich höre Kratzendes, viel i, eine Stimme, die gegen Satzende wie auf einer Schaukel hochfliegt. Schwyzerdütsch. Verstehe ein Wort,
Wasser
. Vermutlich das im Schwimmbad.
    – Ziemlich warm, angenehm.
    – Merci.
    Die Barbarin zieht einen Stuhl heran, den Helm aus, schüttelt überraschend lange, blonde Locken und seufzt tief auf. Streckt energisch kräftige Beine gerade in die Luft, taxiert sie, als müsse sie eine Kaufentscheidung treffen. Und ich erfahre – sie gibt sich beim Sprechen Mühe, ich gebe mir Mühe –, dass sie zu der Cappuccino-Gruppe gehört, den blutigen Anfängern, die bergauf schieben dürfen, und dass sie den abgesprungenen Liebhaber ihrer Freundin ersetzt, der wiederum von ihr behauptet habe, ihr ginge es doch
alleweil
nur ums Essen. Statt ums Fahrradfahren. Lacht kehlig. Menschenkenner, der abwesende Liebhaber. Ich gestehe unter dem milden Blick ihrer hellblauen Augen, dass es auch mir
alleweil
nur ums Essen geht. Wir lachen nun beide. Der Koch, ja, der Koch! Das große Kind, das in der Küche den hölzernen Löffel schwingt wie ein Unsterblicher.
    Claudia – wir haben einander die Namen verraten und, sonnenträge, die Hände gereicht –, Claudia also pellt sich aus den eng anliegenden, knielangen Hosen und einem böse gemusterten Trikot, dann steht sie im Badeanzug am Beckenrand, dehnt und streckt sich, als hätte das gekrümmte Sitzen auf dem Sattel sie gestaucht. Bevor sie mit einem Sprung ins Wasser verschwindet, kommt sie noch einmal zu mir zurück und zeigt mir ein Tattoo am Oberschenkel:
    Your efforts will pay
, steht da in verschnörkelter Schrift.
    Sie hebt den Daumen, lacht, wendet sich zum Becken; eine Erfolgsgeschichte geht nun baden.
    Ich schließe meine Augen erneut. Zufrieden. Hat sie mir auf ihrer Haut gerade mein Orakel offenbart?
    Rechtzeitig, denn morgen bin ich mit meinem Arbeitgeber zum Dinner (Vico sagt nie Abendessen) verabredet, da ist eine Stärkung des Selbstwertgefühls direkt proportional zur Steigerung des Profits, auch
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