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Unter der Hand (German Edition)

Unter der Hand (German Edition)

Titel: Unter der Hand (German Edition)
Autoren: Dagmar Leupold
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und wird mit einhundertsiebzig enden. Soviel steht immerhin fest.
    Schluss jetzt! (Ausruf meiner Mutter, die ohne anzuklopfen in mein Zimmer trat, wo ich damit beschäftigt war, schöne Zitate von Selbstmördern der Weltliteratur in mein Tagebuch zu übertragen): Mein Auftraggeber fördert mich schließlich nicht für dunkle Gedanken.
    Ein Sprung in das Schwimmbecken hat mich abgekühlt, jetzt perlen die Wassertropfen an meiner Haut ab und glitzern in der Sonne wie etwas Kostbares. Ich vertreibe mir die Zeit, die ich zum Trocknen brauche, mit Gedanken an das noch weit entfernte Abendessen, auch das spendiert mir mein Mäzen. Vier Gänge, die vom Koch mit liturgischer Feierlichkeit vorgetragen werden, ich, also die Gemeinde, falle nach jeder Ankündigung lobpreisend ein. Wir sind ein schönes Gespann. Seine große Kochmütze wackelt, so leidenschaftlich ist seine Predigt. Er hat Kinderaugen, sanft und unerfahren. Das Dessert materialisiert sich förmlich in seinem Mund, noch während er spricht. Wenn das keine religiöse Erfahrung ist!
    Gelegentlich, auch wenn ich mich nicht auf Liegestühlen sonne, denke ich darüber nach, was wohl aus den Rheinkieseln geworden ist, die damals die Säcke füllten. Sind sie wieder am Ufer des Flusses ausgebettet, sonnen sich folglich auch? Oder auf seinem Grund, von der Strömung geschliffen und poliert? Ich bilde mir ein, es hätte geholfen, einen von ihnen als Handschmeichler und Fetisch ins erwachsene Leben mitzunehmen, als eine Art Gedenkstein. Beziehungsweise als das Herz aus Stein, das er dem Wurm, Molch, Kreatürchen war. Auch wenn es nicht schlug. Schläge kamen später.
    Vielleicht sind die Kiesel auch auf einem Gartenweg gelandet oder als Grabschmuck verwendet worden:
Hic iacet
– in schöner hellgrauer Schrift mit weißer Maserung:
eine Seele
. Der See entsprungen, in der Erde bewahrt. Im Lateinischen hört man wenigstens, dass
humanitas
mit dem Humus verwandt ist, zu dem wir alle werden, nachdem wir unserer wässrigen Existenz entkommen sind. Das ist mit
Menschheit
anders, da denkt man nur an Männer. Und hoffentlich nicht gleich an Beerdigung.
    Ich sehe, Vico runzelt die Stirn – Vico ist der Name meines Mäzens –, er hat nicht viel Bedingungen gestellt, aber die eine schon: Nicht zu viele Sperenzchen, nicht zu viele Wortspiele! Er weiß, ich liebe das. Er versteht einfach nicht, wie verlockend die Zungenfertigkeit der Worte ist. Ein Schmelz, ein Schmecken und Schlürfen! Wer keine Religion hat, muss sich andere Rettungen erfinden.
    Mein Liegestuhl ist nun im Schatten, die Haut ist bereits ein wenig dunkler als gestern. Ich werde mich in ein mediterranes Geschöpf verwandeln, mit Lebensfreude, gesundem Appetit und italienischen Schuhen. Die Schwalbe fällt mir ein, die sich heute früh in mein Zimmer verirrt hat. Sie segelte durch das weit geöffnete Fenster, noch ganz unbeirrt, prallte gegen die Wand, taumelte – auch das elegant – und kollidierte mit dem Fliegengitter der Terrassentür. Sie krallte sich darin fest, ich näherte mich auf Zehenspitzen, sah schon aus einiger Entfernung ihr rasend pochendes Herz unter dem glänzend schwarzen Brustgefieder. Die blanken Augen drehten durch. Mit größter Vorsicht drückte ich das Gitter nach außen, sie entwich. Und ließ mich mit rasend pochendem Herz zurück. Ich hatte ein Leben gerettet. Der Himmel blähte sich gleichgültig, Tragödien interessieren ihn nicht.
    Der Schatten vertieft sich, ich öffne die Augen. Der Koch steht am Fuß meiner Liege und schirmt mit seinem mächtigen Oberkörper die wenigen Sonnenstrahlen ab, die durch das Laub hindurchgefunden haben. Er wünscht mir eine
buona giornata
, ohne Mütze sieht er unbekleidet aus, nein, unbehütet, und man möchte aufspringen und ihm anbieten, ihn zur Mutter zurückzubringen. Seine großen Hände sind ihm offenbar fremd; er hält sie eigenartig abgespreizt. Nur in der Küche gehören sie ihm.
    Ihnen auch!
, erwidere ich enthusiastisch und überrasche mich selbst damit,
Ihnen auch einen schönen Tag!
Ich spanne die Bauchmuskeln an; ob aus Vorfreude auf das Essen, das er zubereiten wird, oder aus alter Gewohnheit – Tauglichkeitsmusterung –, zu heiß, um es zu entscheiden. In einem Buch, das ich kürzlich las, gab es eine Liebesszene, in welcher der männliche Erzähler von der Hingabe der Frau berichtete, die so groß war, dass sie vergaß, die Bauchmuskeln anzuspannen. Ich fühlte mich ertappt. Das fühle ich mich fünf Mal täglich.
    Der Koch geht ab,
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