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Unter dem Teebaum

Unter dem Teebaum

Titel: Unter dem Teebaum
Autoren: Ines Thorn
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mit einem dunkelroten Läufer bedeckt war, und überlegte. Sollte sie ihren Vater jetzt noch stören? Ihr Kopf war angefüllt mit Gedanken an Jonah und die strahlende Zukunft, die vor ihnen lag. Nein, jetzt war gewiss nicht der Zeitpunkt, sich aus diesen Träumereien reißen zu lassen. Langsam ging Amber weiter und seufzte dabei. In ihrem Zimmer öffnete sie die beiden großen Fenster und trat auf den Balkon hinaus. Der Nachtwind bauschte die hellen Vorhänge, und der frische Geruch von Sand und Eukalyptus erfüllte den Raum. Sie sah hinüber zum Lager der Aborigines. Ihr Vater hatte für die Eingeborenen Holzhütten aufstellen lassen; für jede Familie eine eigene. Ein kleines Dorf mit einem Brunnen und einer kreisförmigen Holzbank, die sich auf dem freien Platz inmitten der Hütten um einen alten Teebaum zog. In warmen Sommernächten wie dieser schliefen die meisten der Ureinwohner im Freien. Sie hatten sich Decken geholt und sich zu Füßen des alten Baumes zur Ruhe gelegt.
    Amber versuchte, zwischen all den Leuten, die unter dem Baum lagerten, Jonah auszumachen, doch es gelang ihr nicht.
    Sie seufzte. Ich muss mit Vater reden, dachte sie.
    Walter Jordan war ein umgänglicher Mann, der in seinen Ansichten überaus tolerant war. Er ließ die Eingeborenen auf ihrem ureigenen Grund wohnen und respektierte ihre Sitten und Gebräuche. Ja er fluchte nicht einmal, wenn ein Teil von ihnen manchmal nicht zur Arbeit erschien, sondern den Spuren ihrer Traumpfade folgte. Irgendwann kamen sie wieder. Sie kamen immer wieder. Manchmal nach nur wenigen Wochen, manchmal nach Monaten, sehr selten erst nach Jahren. Sie kündigten ihren Aufbruch nicht an; es gab nie einen ersichtlichen Grund für ihr Fortgehen. Es war einfach so, dass der Gutsbesitzer am Morgen eines ganz gewöhnlichen Tages aufstand, auf den Balkon trat und in die Sonne blinzelte und sich über die seltsame Ruhe wunderte. Sah er dann zum Hüttendorf hinüber, dann lagen unter dem Teebaum die dunklen Arbeitshosen und die breitkrempigen Hüte, die sie zum Schutz gegen die glühende Sonne trugen. Daneben standen Gummistiefel, die Socken steckten noch darin – und immer war dies ein Zeichen dafür, dass sich wieder einige zu den Traumpfaden der Ahnen aufgemacht hatten.
    Wenn Walter Jordan sich darüber ärgerte, so ließ er seinen Ärger niemanden spüren. Am wenigsten die Eingeborenen, die bei ihm geblieben waren. Er ging einfach zur Tagesordnung über.
    Die Aborigines liebten ihren Master Jordan dafür. Sie hatten verstanden, dass Master Jordan nicht nur ihre Sitten und Bräuche achtete, sondern das Land ebenso innig liebte wie sie selbst. Er zahlte ihnen dieselben Löhne, die die anderen Winzer ihren weißen Arbeitern zahlten, und er kannte jeden Einzelnen von ihnen mit Namen. Mit Orynanga, dem Ältesten des Damala-Totems, verband ihn seit Jahren sogar so etwas wie Freundschaft. Orynanga ließ den weißen Master an seinem Wissen teilhaben. Allerdings in einer sehr umständlichen Art. Fragte Walter Jordan ihn zum Beispiel, was er davon hielt, die Weinberge in den heißen Sommern zu bewässern, so bekam er von Orynanga zur Antwort: »Die Regenbogenschlange hat Wasserläufe durch das Land gezogen, und die Ahnen haben das Wasser ins Leben gesungen. Wo Wasser sein soll, da ist Wasser.«
    »Hm«, murmelte Walter Jordan dann und kratzte sich am Kinn. »Heißt das, wir sollten nicht bewässern?«
    Orynanga schüttelte den Kopf über den weißen Master, der nichts verstand. »Alles, was du brauchst, ist schon da. Entweder trägst du die Reben zum Wasser oder das Wasser zu den Reben, Master.«
    »Heißt das, wir sollen bewässern?«
    Orynanga verdrehte die Augen und begann zu singen.
    Walter Jordan lachte, hieb Orynanga seine große Hand auf die Schulter und ging kopfschüttelnd davon. Auch Orynanga lachte.
    Am nächsten Morgen aber waren die Eingeborenen pünktlich zur Stelle, um an einem kleinen Seitenarm des Murray River, der dem weitläufigen grünen Tal durch das Gebiet des Barossa Valley folgte, einen kleinen Staudamm zu bauen, der dafür sorgte, dass das Wasser des Flusses die Weinreben erreichte.
    »Es wird alles gut werden«, flüsterte Amber und kehrte in die Gegenwart der nächtlichen Stille zurück. »Vater liebt die Aborigines. Und er mag Jonah. Er wird nichts dagegen haben, dass wir uns lieben.«
    Die Sonne stand am nächsten Tag schon über den Hügeln hinter Tanunda, als Amber erwachte. Sie hatte die hölzernen Klappläden über Nacht nicht geschlossen und
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