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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor
Autoren: Herbert Reinecker
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Fahrrad vorwärts. Sie bremste und lachte.
    »Gut, daß ich Sie treffe, Doktor«, sagte sie, »bei Muntwiler ist es soweit.«
    Der Doktor sprach ein paar Worte mit der Frau, die einen ebenso gesunden wie resoluten Eindruck machte.
    Dann stieg die Frau wieder auf ihr Rad, beugte sich gegen Wind und Regen und fuhr weiter.
    »Das war Frau Wingst «, sagte der Doktor, »unsere Hebamme.«
    »Sie sah aus wie eine Bäuerin.«
    »In gewisser Hinsicht«, lachte der Doktor, »ist sie es auch. Sie ist immer in der Erntezeit.«
    Er lachte zwar, aber eine gewisse nachdenkliche Unruhe war nicht zu erkennen.
    »Handelt es sich um das Kind, von dem Sie sprachen?« fragte ich.
    »Ja«, sagte er abwesend, »gewisse Dramen werden auf dem Lande leichter sichtbar. Sie finden natürlich überall statt, wo es Menschen gibt. Ich sollte Ihnen die Geschichte erzählen.«
    »Hat sie einen Sinn für mich?«
    »Wenn Sie auf Lebensweisheiten aus sind«, sagte er belustigt, »die liegen auf der Straße. Aber so leicht bückt sich keiner. Man will die heute in Zellophan eingepackt, mit beglaubigten Unterschriften. Niemand traut sich mehr recht selber, was doch das einfachste wäre. Man hat einen Spezialisten fürs Auto, also will man auch einen für die Seele, oder was man gerade für reparaturbedürftig hält. So fällt es heute jedem Scharlatan leicht, sich glaubwürdig zu machen. Der Mensch ist zum Anhänger geworden, zum Anhänger von irgendwas, er möchte sich mit anderen zusammen um irgend etwas scharen, während das beste wäre, denken zu lernen, auf die ganz einfache Weise, aber das ist wahrscheinlich nicht kompliziert genug. Pardon — «, lächelte er und unterbrach sich, »ich begehe einen Fehler, der im Gegensatz zu meiner ärztlichen Erfahrung steht. Ich versuche zu überreden, während es besser wäre, Ihre eigene Stimme zu ermutigen, sich hörbar zu machen.«
    »Was ist das für ein Fall?« fragte ich.
    »Sie haben den Bauernhof gesehen, den wir besuchten? Wie gefiel er Ihnen?«
    »Grauenhaft.«
    »Es ist der größte und schönste der ganzen Gegend, der reichste. Es gehört viel Land dazu, viel Wald. Dagegen sind wir arme Schlucker. Mindestens ich«, berichtigte er sich.
    »Die Leute, denen das alles gehört, heißen Muntwiler . Alte Leute inzwischen. Bemerkenswert ist die Frau, die nun auch schon sechzig ist.«
    Die Stimme Doktor Färbers wurde fast ehrerbietig: »Das ist das härteste Stück Eisen, das ich je gesehen habe. Die ganze alte Frau auf Draht gezogen. Jedesmal, wenn ich sie sehe, erinnert sie mich an einen Indianer, stoisch, kalt, mit einem ganz natürlichen Gefühl für Grausamkeit.
    Sie hat die rüdesten Knechte der ganzen Gegend, denn andere halten es bei ihr nicht aus. Und diese Frau hatte einen Sohn.«
    Er machte eine Pause. »Da beginnt meine Geschichte. Dieser Junge, Johann Peter, hatte von Geburt an einen Herzfehler, der nicht zu reparieren war. Mitbekommen, wissen Sie, und wissen Sie auch, was das bedeutet für Bauern, die erwarten, daß ihre Kinder so gesund sind wie ihre Ochsen im Stall?
    Das können Sie nicht wissen.
    Ich wurde einmal auf den Hof gerufen wegen eines Knechtes, der sich mit einer Sense die halbe Wade abgesägt hatte. Ein Unfall übrigens, über den sich die alte Frau Muntwiler halb totlachte. Sie flößte dem Knecht Selbstgebrannten Schnaps ein, während ich ihn verarztete. Sie zeigte plötzlich auf den Hof hinaus, wo ihr Sohn in seiner gewöhnlichen trägen Weise vorüberschlurfte.
    >Und können Sie was machen mit dem da?< fragte sie.
    Ich konnte nichts mit ihm machen. >Er darf nicht arbeiten< sagte ich.
    Johann Peter Muntwiler hatte es schwer. Ich weiß nicht, ob er wußte, wie schwer er es hatte. Auf dem Lande redet man nicht viel. Aber wenn er Kraft hatte, dann brauchte er sie nicht dazu, sich zu wehren, sondern er verwandte sie, wie alle Geschlagenen und Unterdrückten, auf seine Geduld. So wurde er zweiunddreißig, ein nutzloser Umhergeher auf dem reichsten Hof der ganzen Gegend, ein Mann, der keinen Kornsack selber tragen konnte, auf einem Hof, auf dem man Knechte danach bewertete, wie schnell und wie weit sie einen Kornsack tragen können.
    Sichtbar wurde mir Johann Peter erst wieder bei dem Stiftungsfest der Freiwilligen Feuerwehr, das in jenem Saal stattfand, dessen Girlanden Sie so beeindruckt haben.
    Er saß an seinem Tisch, den schweren Kopf schräg gelegt, als sei es so bequemer, ihn zu halten.
    So konnte er stundenlang sitzen, und es gab Leute, die hätten Geld verwettet für die
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