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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor
Autoren: Herbert Reinecker
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ganz ernst, der Eindruck teilte sich mir mit, ohne daß ich ihn ansah. Er sprach, als sei es nicht für mich bestimmt. »Ich muß einfach rechtzeitig da sein.«
    »Machen Sie so was auch, Geburtshelfer?«
    »Nicht immer«, sagte er, »wir haben eine tüchtige Hebamme, aber dieser Fall interessiert mich aus privaten Gründen.«
    »Ich dachte immer«, sagte ich, »für einen Arzt gibt es keine privaten Gründe.«
    »Man kann es manchmal nicht verhindern«, lächelte er gleichmütig, »ich erinnere mich, daß mein Professor früher einmal sagte: >Laßt euch nicht zur Anteilnahme verleiten. Ein mitleidiger Arzt kann nur ein schlechter Arzt sein.< Aber er hatte unrecht.«
    »Und nun haben Sie Mitleid mit Ihren Patienten?«
    »Es sind Menschen«, lächelte er, »zwar aus materiellem Stoff, aber belebt vom Atem Gottes.«
    Dieser Satz ging ihm so leicht von den Lippen, daß ich das Gefühl hatte, er wolle mich provozieren.
    »Glauben Sie an Gott?« fragte ich.
    »Ich kann nicht umhin«, lächelte er.
    Ich war mir der Sonderbarkeit dieser Situation vollkommen bewußt. Ich fuhr in einem Auto mit einem Menschen, den ich erst seit wenigen Stunden kannte. Aber das Merkwürdige war, daß es keine Fremdheit zwischen uns gab. Man baut gewöhnlich allerlei Fremdheit zwischen sich auf als eine Sache ganz natürlicher Vorsicht.
    Das tat er nicht.
    Er redete, wie er wollte und ohne die geringste Anstrengung.
    »Ich weiß«, setzte er jetzt hinzu, »daß Sie erschreckt, was ich sage, aber es ist ja nur ein Schrecken mehr, nicht wahr?«
    Ganz zweifellos nahm er mich nicht ernst. Vielleicht sich selber auch nicht. Jedenfalls schien er seinen großen Satz nicht als eine Eröffnung zu einem Gespräch zu betrachten, wie es zu vorgerückter Stunde von vielen Leuten gern getan wird.
    Er schien fast vergessen zu haben, daß ich neben ihm saß.
    Er redete nicht mehr.
    Ich fragte nicht, wohin er eigentlich fahre. Und ihn schien es nicht zu interessieren, ob ich wohl Lust habe, seine Krankenbesuche mitzumachen.
    Soeben durchfuhr er eine Wasserlache von beträchtlichen Ausmaßen mit einer Geschicklichkeit, die an einen professionellen Geländefahrer erinnerte.
    »Um diese Zeit haben wir hier immer ein wenig Hochwasser«, sagte er, »ein kleines Biest von Bach mit Anwandlungen von Größenwahn. Auch die Natur kennt also solche Fälle.«
    Wir gerieten in eine womöglich noch größere Einsamkeit, waldumstanden, als seien die nebelspuckenden Wälder nur widerwillig beiseite gegangen, um ein paar Häusern Platz zu machen, die sich auch gar nicht wohl zu fühlen schienen. Wir hielten vor einem Gasthaus, ein fleckiges, langgestrecktes Gebäude, das aussah, als habe es ein Architekt nach einer Schülerzeichnung gebaut.
    »Kommen Sie mit rein«, sagte er, »Sie sind sicher schon wieder reif für einen Schnaps.«
    Womit er nicht unrecht hatte.
    Ein Gasthaussaal mit verstaubten Girlanden. Ich erfuhr später, daß sie immer dort hängen in einem trostlosen Dauerversuch, Fröhlichkeit zu verbreiten. Auch Jäger schienen ab und zu dort zu sein, sie hinterließen an den Wänden bombastische Urkunden, Gruppenfotos um liegendes Erlegtes und Geweihe, die wie Garderobenständer aussahen.
    Ich verlor mich an der Theke und nahm mir selbst einen Wacholderschnaps.
    Im Hintergrund des Raumes standen einige Landleute, als habe sie jemand in Bann und Stummheit geschlagen.
    Mein Doktor erschien wieder, trank auch einen Wacholderschnaps und sagte: »Die Leute hier haben die Angewohnheit, ihre Kinder viel zu fett zu ernähren. Die Milch hier hat mehr als fünf Prozent, und sie wollen es nicht glauben, daß für ihre Kinder schlecht sein soll, was für ihre Kälber gut ist.«
    Dann ging er hinüber zu den Landleuten, die auf ihn gewartet hatten.
    Ich beobachtete ihn genau. Gott sei Dank war er nicht von jenem Wohlwollen, das ihn mir sofort und für immer verleidet hätte. Er setzte sich und sagte: »Na, was ist, Martha?«
    Er unterhielt sich, schrieb ein paar Rezepte, fühlte jemandem den Puls. Von weitem sah es so aus, als könne er mit ihnen auch über Trecker reden.
    Als wir wieder im Auto saßen, fragte ich ihn, ob er hier eine Art Sprechstunde abhalte.
    »Die Ärztekammer würde das nicht gerne sehen«, lächelte er, »aber auf dem Lande gelten andere Gesetze. Es sind so Bagatellfälle, ein paar Rezeptnachschreibungen, weiter nichts.«
    Er machte einen gelösteren Eindruck.
    »Wie halten Sie das hier aus auf dem Lande?« fragte ich ihn unvermittelt, »hier ist doch nichts,
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