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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor
Autoren: Herbert Reinecker
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sah doch nicht krank aus.«
    »Er ist Epileptiker.«
    »Ist das schlimm?«
    »Für ihn ist es schlimm«, erklärte er, »aber er hatte sich daran gewöhnt. Er arbeitete bei der Kleinbahn. Ausbesserung von Gleisanlagen. Seine Kollegen kennen seine Anfälle. Wenn er sie bekommt, legen sie ihn ins Gras, sie öffnen seine Kleidung und sehen zu, daß er sich nicht verletzt. Es ging ganz gut so. Für einfache Leute ist auch nichts Sensationelles dabei. Wenn er aufwachte, fragte er: >Wie war es diesmal?< Und sie sagen: >Nicht so schlimm diesmal< oder >Heute hast du ganz schön gestrampelt.< Er sitzt dann in der Sonne, bis er wieder ganz bei sich ist, und dann arbeitet er weiter.«
    Langsam fuhr Doktor Färber fort: »Aber jetzt ist etwas passiert. Er bekam einen Anfall, als er auf dem Moped saß, und fuhr einem anderen in den Wagen. Ein ziemlicher Zufall, denn Sie ahnen sicher, wie wenig Verkehr wir hier haben. Es gab Verletzte, und das brachte ihn vor den Richter. Jetzt wollen sie ihn invalide schreiben.«
    »Na und —?« fragte ich.
    »Sehen Sie«, sagte er sanft, »Sie haben keine Ahnung. Er ist dreiundfünfzig. Wenn sie ihn invalid schreiben, bekommt er Rente. Wenig Rente. Weniger als nach einem vollen Arbeitsleben. Es geht um vierzig, fünfzig Mark.« Er verbesserte sich: »Nicht darum. Um Leben oder Sterben. Für manche Leute«, sagte er und sah mich ironisch an, »hängt Leben und Sterben von vierzig, fünfzig Mark im Monat ab. Ich will sehen, daß sie ihn nicht invalide schreiben. Er hängt an seinen Eisenbahnschwellen. Jeder hängt an dem bißchen Leben oder was er dafür hält. Ich will nicht, daß sie ihm sagen: Laß los. Er würde es sofort tun.«
    Wir fuhren durch wahre Wasserdämpfe. Die Scheibe beschlug und erhöhte den Eindruck von Unwirklichkeit.
    Im stoßenden, rüttelnden Dahinfahren wußte ich plötzlich etwas. In der allgemeinen Leere, die heute morgen noch vollkommen war, gab es nun wieder einen Punkt, dieser Mensch neben mir, ein Landarzt in Wickelgamaschen.
    Er saß jetzt still neben mir, sagte wenig und schaffte es doch, mich aufzuregen.
    Durch seine Ruhe, durch eine Art von Zufriedenheit, die nicht zu übersehen war.
    Er schien zu begreifen, was mit mir los war, aber er redete nicht darüber, oder tat er es doch?
    War alles, was er sagte, auf mich eingeredet?
    Ich wußte nur eins: Dieser Mann war glücklich. Das war das Aufregende, das Provozierende: Ein Mann in Übereinstimmung mit sich selbst.
    Wollte er mir das zeigen? Denn er zeigte es, wenn auch ohne jeden Triumph.
    Ich sah ihn von der Seite an.
    Er wirkte nun fast zierlich, als sei der erste Eindruck ganz falsch gewesen. Eine Stirn, die ihren Eindruck von Zerbrechlichkeit durch eine wirre Haartolle zu verdecken suchte. Die Nase ziemlich feinflügelig und kürzer, als die Stirn vermuten lassen könnte. Alle Proportionen dieses Gesichtes ein wenig verschoben, nicht ins Häßliche, was eben das Verwunderliche daran war. Seine Haut war sehr feinporig, sein Mund fast weich wie bei einer Frau.
    »Was würden Sie mir empfehlen, Doktor?« fragte ich plötzlich.
    Er sah mich an. Meine Musterung war ihm natürlich nicht entgangen.
    »Jeder Mensch«, sagte er leicht, »spielt einmal im Leben mit dem Gedanken an Selbstmord. Ich habe das immer für eine gesunde Sache gehalten. Es beschäftigt die Phantasie und lenkt ab.«
    »Ich spiele nicht mit dem Gedanken an Selbstmord«, entgegnete ich. »Mein Leben ist auf eine ganz andere Art zu Ende.«
    Jetzt sprach ich davon, und es war genau das, was ich unter keinen Umständen tun wollte. Ich hatte das unangenehme Gefühl: Er hat es geschafft.
    »Nehmen Sie die große Spritze, Doktor«, sagte ich.
    Er lächelte ein wenig abwesend.
    »Warum wollen Sie etwas tun gegen einen Zustand, der seinen Wert hat, seine Bedeutung, seine Notwendigkeit? Offenbar — « fuhr der Doktor leichthin fort, »gehören Sie zu den Leuten, die nachdenken. Es erschreckt Sie, daß das Nachdenken so plötzlich kommt. Ich kann Sie nicht dümmer machen, als Sie sind. Abgesehen davon befinden Sie sich im Irrtum, wenn Sie glauben, daß ich Krankheiten hasse. Krankheiten haben ihre ungeklärte Beziehung zum Ganzen. Es vollzieht sich etwas, was vollzogen werden muß. Mit Krankheiten muß man vorsichtig umgehen.«
    Er setzte spöttisch hinzu: »Das ist das, was ich im Laufe der Zeit gelernt habe, und ich bin noch nicht zu Ende damit.«
    Er hielt den Wagen unvermittelt an und kurbelte das Fenster herunter.
    Eine alte Frau kämpfte sich auf einem
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