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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor
Autoren: Herbert Reinecker
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Behauptung, er denke schlechterdings an nichts.
    Bei solchen Festen sieht man natürlich auch viele Mädchen, die kräftigen Mädchen dieser Gegend, die nicht zimperlich sind. Sie fassen an, und sie werden angefaßt. Das stampft dann hin und her, daß der Bretterboden sich biegt.
    Nun gibt es in dieser Gegend auch noch Vertriebene, Leute aus Pommern, Schlesien, meist arme Leute, die ihren ganzen Besitz bei sich tragen: ihre Hände nämlich. Sie haben diesen verdammten demütigen Blick, den man ihnen eingebleut hat und den sie nicht einmal nachts verlieren und der doch glatter Hohn ist. Ihre Töchter aber sehen anders aus. Sie gehen anders, sie bewegen sich anders, sie lachen anders und — sie haben den demütigen Blick nicht.
    Sie hatte ihn bestimmt nicht, Ludmilla Bux, das könnte niemand behaupten. Sie war eine Spur kleiner als der Durchschnitt der anderen Mädchen, kleiner und feiner. Ein blasses Gesicht mit fast schwarzen Augen, mit Linien wie auf einem Notenblatt, eine Kinderstirn, fast weiß. Die jungen Männer rissen sich um sie, weil sie offenbar jedem das Gefühl vermittelte, tanzen zu können. Sie lenkte einfach jeden Blick auf sich. Sie war frech, sie war mutig, sie schoß ihre kleinen frechen Worte ab wie mit dem Luftgewehr.
    Ganz plötzlich stand also Ludmilla vor Johann Peter, blitzte ihn an und fragte: >Tanzt du nicht?< Es waren gleich junge Männer da, die auf sie einredeten: >Der tanzt nicht. Wenn der tanzt, fällt der tot um.<
    Ich weiß natürlich nicht genau, was in Johann Peter vorgegangen ist. Aber er stand auf und tanzte mit ihr. Das war so ungewöhnlich, daß an allen Tischen die Leute sich umdrehten. Ich sah es auch, denn der Aumüller stieß mich an: >Darf der denn das?<
    Natürlich durfte er das nicht. Meine erste Reaktion war: Steh auf und sag es ihm, aber — ich blieb sitzen. Denn: Dies war seine erste wirklich selbständige Handlung seit seiner Geburt. Ludmilla hatte bis dahin offenbar keine Ahnung, was mit Johann Peter los war. Sie erfuhr es schnell und keineswegs verblümt.« Der Doktor sah mich von der Seite an. »Es gibt Menschen«, fuhr er dann langsam fort, »die kommen mir so vor, als rennen sie andauernd mit ihrem Mantel herum, um irgendeinen Nagel zu finden, an dem sie ihn aufhängen können.« Er lächelte: »So war das mit Ludmilla. Sie wußte bis dahin nicht, wo sie ihren Mantel aufhängen sollte. Jetzt wußte sie es. Der Nagel war Johann Peter Muntwiler . Der Nagel, an den sie ihren Mantel hängte. Keine drei Wochen später sagte Johann Peter seiner Mutter, daß er Ludmilla Bux heiraten wolle.
    Bei den Bauern hier gibt es eine Rangordnung über Land, Wald und Vieh. Und nach dem letzten räudigen Hofhund kommt ein Mädchen, das nichts besitzt und von dem man nicht weiß, woher es eigentlich kommt. Aber Johann Peter nahm seinerseits keinen Einwand zur Kenntnis. Er hatte nie im Leben Kraft gebraucht für einen Entschluß, weil er nie Entschlüsse gefaßt hatte. Für diesen einen Entschluß, den einzigen in seinem Leben, brachte er alle Kraft mit, die er in zweiunddreißig Jahren gespart hatte. Kraft nicht mit Worten, Kraft in seiner Geduld.«
    Der Doktor lächelte wieder: »Ihr leeres Land, mein Lieber! Nichts ist leer, wo Menschen sind. Da war mörderischer Krieg, unbemerkbar, ein paar halbe Worte, das meiste unterirdisch. Der Streit mit Worten ist von der gewöhnlichen Art, die andere ist schlimmer, halten Sie mal solche Abende durch, wenn geschwiegen wird, das sind Nahkämpfe.
    Kurzum, Johann Peter gewann. Er heiratete Ludmilla Bux. Ich war sein Trauzeuge, ich und meine Frau, weil es sonst niemand gewagt hätte.«
    »Warum taten Sie das?«
    »Man hat Johann Peter ins Leben geholt, aber man hatte vergessen, ihn leben zu lassen.« Ernst, fast leise fügte er hinzu: »Er hätte weiter über seinen Hof schlurfen können, nutzlos, ängstlich, und hätte sogar die Möglichkeit gehabt, alt zu werden. So wurde er glücklich und starb nach sieben Monaten.«
    Ich wunderte mich, daß mich die lakonischen Worte erschreckten.
    »Er starb?«
    »Um fünf Uhr morgens. Er setzte sich zum Kaffeetrinken an den Tisch und rutschte plötzlich vom Stuhl. Sie riefen mich an, und ich war eine halbe Stunde später dort.«
    »Sie konnten nichts mehr machen?«
    »Der Tod«, sagte Doktor Färber und sah mich wieder spöttisch von der Seite an, »hat etwas von einem Theaterstück an sich. Der Vorhang fällt, und von einer Sekunde auf die andere erheben sich alle Leute und gehen hinaus.«
    »Seine
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