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Puppengrab

Puppengrab

Titel: Puppengrab
Autoren: Kate Brady
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    1
    Big Horn Butte, Washington
2780  Meilen entfernt
    D ie Nacht war kühl, der Mond nur eine schmale Sichel. Nebelschwaden waberten über das Wasser und erstarrten in den Gräben zu Eis. Seattle glitzterte im Dunstschleier zweitausend Meter in der Tiefe, doch oben auf dem Berg war die Luft dünn und klar, und es war gespenstisch still. Die Dunkelheit wurde nur von dem bläulich weißen Strahl einer Halogentaschenlampe durchschnitten, und nichts bewegte sich, bis auf die Spulen eines alten Kassettenrecorders, die sich unablässig drehten. Es war kaum etwas zu hören, nur das gedämpfte Schluchzen der Frau, die bald sterben würde.
    Chevy Bankes blickte auf die Gestalt vor ihm, deren Führerschein sie als Lila Beckenridge auswies. Das Foto zeigte messerscharf geschnittene Wangenknochen und einen streng zusammengerafften Dutt. Eine Tänzerin, dachte er, während er sie an den Fußknöcheln fesselte. Geschundene Füße und dünn wie eine Bohnenstange. Der schwache Geruch von Schweiß unterlag ihrem Parfüm.
    Und sie konnte laut schreien, besaß gut entwickelte Atemorgane. War es wert, ihre Rolle in der Inszenierung zu spielen, die heute Nacht ihren Anfang nahm.
    Chevy verharrte in der Bewegung, als ihm die Bedeutung des Augenblicks bewusst wurde. Er hatte schon Frauen gehabt, hatte schon getötet, aber nie zuvor mit solch einer
Bestimmung.
Noch nie hatte er eine Frau getötet, noch nie ein Leben für etwas anderes als die unmittelbare Befriedigung seines Drangs ausgelöscht. Insofern war die Tänzerin einzigartig. Eine Premiere.
    Perverse Dankbarkeit überrollte ihn, und er beugte sich vor, um ihr über die Wange zu streicheln. Sie spuckte ihn an.
    »Schlampe!«, knurrte er wütend und wischte sich das Gesicht mit einem Zipfel seines Hemds ab. Wut flammte in ihm auf. Wie konnte sie es wagen? Das war nicht in seinem Plan vorgesehen …
    Who killed Cock Robin? I, said the Sparrow, with my bow and arrow, I killed Cock Robin …
    Chevy hielt sich die Ohren zu. »Nein«, sagte er, aber das Lied wollte nicht aufhören – die Melodie verfolgte ihn hartnäckig wie das Surren einer Stechmücke am Ohr. Er schlug um sich, als könne er das Insekt vertreiben, holte dann mit dem Fuß aus und verpasste der am Boden liegenden Frau einen Tritt. Das Geräusch ihres brechenden Kiefers erinnerte an das Zerbersten eines brennenden Zweigs im Feuer. Ein schmerzvolles Aufstöhnen entrang sich ihrer Kehle.
    Die Melodie des Kinderlieds verflüchtigte sich.
    Chevy wartete einen Augenblick lang und zwang sich zu atmen. Kontrolle. Stille. Heute Nacht durfte es nicht in seinem Kopf singen, nicht, wenn er seinen Plan, an dem er sieben Jahre lang gefeilt hatte, endlich umsetzen wollte.
    Bebend nahm er die Hände von den Ohren und sah sich mit weit geöffneten Augen um, als könne er den Ursprung der Stimme sehen und verscheuchen, falls sie wiederkam. Er warf einen Blick auf die Kassette – es waren noch zehn, vielleicht fünfzehn Minuten Spielzeit übrig –, dann auf seine Armbanduhr. Es war schon spät, und er hatte noch einen Anruf zu erledigen. Außerdem wartete seine kleine Schwester auf ihn, sie war nicht gern allein. Die arme Jenny hatte schon genug Zeit ihres jungen Lebens damit verbracht, auf Chevy zu warten.
    »Nicht mehr lange, Jen«, flüsterte er, als könnte sie ihn hören. Er schaltete den Recorder aus und griff nach dem Karton, den er den Berghang hinaufgeschleppt hatte. Er war ungefähr sechzig Zentimeter lang und dreißig Zentimeter breit, zwar nicht sonderlich schwer, aber unhandlich. Er stellte ihn neben die Tänzerin und öffnete die Laschen. Styroporflocken stoben auf, als er den zerbrechlichen Inhalt heraushob und die Stoffhülle Schicht um Schicht abwickelte, bis …
    »Mein Gott.« Chevy stockte der Atem, obwohl er das Gesicht schon einmal gesehen hatte: dunkle, seelenvolle Augen, ein breites Lächeln und dicke Locken aus echtem Haar. Er schluckte und durchwühlte den Stapel Versicherungsscheine in dem Karton, um sicherzugehen, dass es sich um das älteste Puppenmodell der Serie handelte.
1862 Benoit. Kopf und Brust aus Biskuitporzellan, Holzkörper. Seltenheit: Schlafaugen. Geschätzter Wert: 40   000  bis 50   000 $.
    Chevy brachte die Puppe in eine aufrechte Haltung und ließ sie wieder nach hinten kippen – vor und zurück, vor und zurück –, während er ihre Augen betrachtete. Der Angabe des Versicherungsgutachtens zum Trotz schlossen sich die Augen der Puppe nicht. Sie blieben offen, beobachteten
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