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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor
Autoren: Herbert Reinecker
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wurde begrenzt von der Elbe, die heute eine Grenze darstellt. Die Landschaft schmiegte sich in den Elbebogen hinein, ein geschlossener Sack, denn es gab auch keine großen Straßen, die fremde Autos, fremde Menschen wenigstens hindurchgeführt hätten.
    Dieses Land gehörte denjenigen, die dort wohnten, und nur ihnen. Es war ihre Sache, ihr Geheimnis.
    Vor dem Hause des Doktors war mir gestern abend etwas aufgefallen, eine Sprechanlage an der Tür.
    »Ich sehe«, hatte ich gesagt, »ganz ohne technische Einrichtungen kommen Sie auch nicht aus.«
    Er bemerkte meinen Blick, lachte und sagte: »Sie meinen die Sprechanlage? Das war ein Fehler, und wir benutzen sie nicht mehr. Es hat viele Leute erschreckt, eine Stimme zu hören und niemanden zu sehen.«
    »Die Leute sind wohl sehr primitiv hier«, bemerkte ich.
    Und er sagte: »Das Fehlen von Kenntnissen macht niemanden primitiv. Es gibt auf einer Hochschule so viele primitive Leute wie hier auf dem Lande. Man denkt da einfach falsch. Unsere jüngste Geschichte«, hatte er spöttisch hinzugesetzt, »gibt dafür genügend Beispiele. Hüten Sie sich vor intelligenten Menschen. Sie sind fähig, das Unmöglichste zu machen.«
    Das Wetter war heute etwas besser. Der Wolkenschleier war dünn genug, um die Sonne wenigstens ahnen zu lassen.
    Ich ging hinüber zur Praxis des Doktors.
    Ich ließ mir von der Frau des Doktors einen Eimer Wasser geben und einen Lappen.
    »Was haben Sie vor?« fragte mich Doktor Färber verblüfft.
    Ich sagte: »Ich habe heute Lust, Autos zu waschen. Ich habe meinen Wagen gewaschen, und ich kann auch Ihren waschen.«
    »Der bricht vor Schreck zusammen«, grinste der Doktor.
    Jetzt sah ich erst, daß seine Hände gipsverschmiert waren.
    »Hat sich jemand das Bein gebrochen?« fragte ich.
    »Nein, aber ein alter Mann den Oberarmkopf.«
    »Ist das nicht eine komplizierte Sache?«
    »Ja«, sagte er, »ich müßte ihn ins Krankenhaus überweisen, aber er will nicht gehen.«
    Er lächelte. »Ich habe schon einige Leute mit Gewalt ins Krankenhaus schaffen müssen. Sie jammern und schreien. Sie wollen einfach nicht und benutzen die erste Gelegenheit, um zu flüchten.«
    »Angst?«
    »Nein, das andere, das Fremde, der fremde Platz, wissen Sie. Sie kennen niemanden, und dann schlägt ihnen das Herz wie bei den Vögeln, die aus dem Nest gefallen sind. Mein alter Mann hier sagt: >Das können Sie auch, Doktor. Sie machen das richtig<. Er schwört, er würde sofort aus dem Krankenhaus weglaufen.« Seufzend setzte der Doktor hinzu: »Und ich weiß, er tut’s. Was soll ich machen?«
    »Aber du weißt, was daraus werden kann«, sagte seine Frau besorgt.
    »Tja«, lächelte der Doktor, »ich spare der Berufsgenossenschaft viel Geld, aber sie sind nicht immer dankbar. Ich habe nichts davon außer das Risiko. Aber das bin ich gewöhnt.«
    Er verschwand wieder im Behandlungszimmer.
    »Er ist unmöglich«, sagte seine Frau so liebevoll sie konnte.
    Dann wusch ich den Wagen. Gegen meinen eigenen Wagen war das ein Veteran, zernarbt, mit abgeplatztem Lack, mit Rostflecken. Aber ich brachte ihn wieder zu einigem Glanz.
    Gegen Mittag erschien der Doktor.
    »Ich muß wieder los«, sagte er, besah verblüfft seinen Wagen und grinste, »der ist ja grün.«
    Er stieg ein. »Wollen Sie wieder mit?«
    Ich stieg ein, wir fuhren los.
    »Ich hab’s tatsächlich nicht mehr gewußt, wie er aussah«, lächelte er mich an.
    »Was war mit Ihrem Kind gestern abend?« fragte ich.
    »Es kam auf normale Weise und ohne Komplikationen«, sagte er, lächelte ein wenig und hob die Schultern: »So müßte man eigentlich sagen, weil es genauso aussah.«
    »Aber es sah nur so aus?«
    »Ja«, sagte er abwesend, »Ludmilla ist eine kleine zähe Person. Sie sah selber aus wie ein Kind. Sie litt Schmerzen, aber sie schrie nicht. Sie brachte keinen Laut hervor, der hinter der Tür hörbar gewesen wäre. Sie wollte es nicht. Mit den kleinen Fäusten bog sie die Bettstangen zusammen, aber niemand in diesem Hause sollte sie leiden hören.
    Die gute Frau Wingst , unsere Hebamme, sprach ihr Mut zu: >Schrei, Kindchen, schrei ruhig, erst schreist du, dann das Kind, das ist gesund und das muß so sein<, aber Ludmilla sah mich an und lächelte. Sie flüsterte mir zu: >Gib mir nichts, daß ich das Bewußtsein verliere.< Sie wollte hellwach sein.«
    »Warum?«
    »Sie wollte ihren Triumph haben.« Er hob die Schultern, sah mich unbestimmt an. »Und sie bekam ihn. Es war ein Sohn. Ludmilla hatte ein Gesicht weiß wie
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