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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor
Autoren: Herbert Reinecker
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kein Kino, kein Theater, keine Abwechslung, hier ist doch gar nichts.«
    »Wissen Sie«, sagte er, »diese Frage wird oft gestellt, und meistens von Leuten, die weder ins Theater gehen noch sich Konzerte anhören. Wann waren Sie zuletzt im Theater?«
    Die Frage war nicht schlecht, mußte ich zugeben.
    »Das Land hier — «, fuhr er fort, »erscheint Ihnen leer. Eindrücke dieser Art werden selten von außen empfangen, sondern bei Ihnen selbst, in Ihrer Brust gemacht. Sie wollen dieses Land leer und häßlich sehen, weil es Ihrer Stimmung entspricht.«
    »Ich habe überhaupt keine Stimmung«, wehrte ich mich.
    »Alles ist so leer, wie Sie wollen«, sagte er, »ich habe mir sagen lassen«, nun lächelte er wieder, »daß man daraus soeben eine neue Kunstrichtung gemacht hat. So etwas wechselt ja immer. Die Frage nach dem Sinn der Existenz hat viele Variationen. Sie ist weder neu noch zu beantworten, wenngleich eine gewisse Notwendigkeit wohl vorliegt, sich damit zu befassen. Ich erkläre Ihnen allen Ernstes: Dies ist ein wirklich amüsantes Land hier, keinesfalls schlechter als irgendein anderer Platz. Er befriedigt alle menschlichen Bedürfnisse, abgesehen von denjenigen, die zu befriedigen ein ganz natürlicher Sinn nach Aufrechterhaltung von Spannung und Erwartung verbietet.«
    Er hielt vor einem Stationsgebäude.
    Eine Kleinbahnlokomotive stand wie ein etwas groß geratenes Kinderspielzeug auf nassen Gleisen. Das Gebäude selbst erhob sich unvermittelt aus der schlammigen Wiese. Die Buchstaben waren kaum lesbar: Mierisch -Land.
    Mein Doktor hüpfte aus dem Wagen.
    »Ich bin gleich wieder da.«
    Er nahm diesmal seine Tasche nicht mit.
    Einsamkeit ist kein unveränderlicher Zustand. Einsamkeit hat immer die Neigung, zuzunehmen. Ich spürte, wie sie zunahm.
    Das dünne Läuten einer Bahnglocke erhöhte den Eindruck noch. Ich wollte gerade den Wagen verlassen, als der Doktor zurückkam. Er lächelte.
    »Pardon«, sagte er, »aber es war ganz gut, daß ich hier vorbeifuhr.« Er sah mich an: »Sie sehen ganz blaß aus. Ein Schnaps hält nicht lange vor, nicht wahr?«
    »Nein«, sagte ich, »welchen Menschen haben Sie hier repariert?«
    »Einen armen Teufel«, antwortete er, »der ganz andere Sorgen hat als Sie, aber er nimmt sie genauso wichtig.«
    Wenn in seinen Worten eine Aggressivität lag, so milderte er sie mit seinem Lächeln.
    »Ich habe ihn übrigens nicht selbst besucht, sondern seinen Vorgesetzten.«
    Er hielt jetzt vor ein paar armseligen Häusern, in denen Bahnarbeiter wohnen mochten.
    »Er selbst wohnt hier«, sagte der Doktor und sah mich nachdenklich an, »kommen Sie mit rein?«
    »Warum wollen Sie das?« fragte ich.
    »Reine Neugier«, murmelte er und stieg schon aus.
    Ich ging mit.
    Es war eins jener Arbeiterhäuser, die um die Jahrhundertwende gebaut wurden, um die Sozialdemokratie zu beeindrucken. Eine Art menschlicher Hühnerstall.
    Der Geruch war atembeklemmend.
    Ein Mann erhob sich von einem Stuhl, in demütiger Sanftheit, die blaßblauen Augen auf den Doktor gerichtet.
    »Hör zu, Erich«, sagte der Doktor, »ich glaube, ich kann dir helfen. Sie werden es machen. Ich muß nur noch mit dem Richter sprechen.«
    Der Mann sagte nichts und behielt den Blick eines sanften Kaninchens.
    Es war auch noch eine Frau da. Sie murmelte: »Besten Dank, Doktor.«
    Es schien, als wolle sie nach der Hand des Doktors greifen, aber er hatte sie schon auf dem Rücken.
    »Ihr müßt euch nur nicht bange machen lassen«, sagte der Doktor.
    »Ja«, sagte die Frau ohne jede Überzeugungskraft.
    »Sie werden euch vorladen. Sagt mir, wenn es soweit ist, daß ich mitgehe.«
    »Ja«, sagte die Frau wieder.
    Wir verließen das Haus.
    Der Doktor sah mich von der Seite an. »So kann man auch wohnen«, sagte ich.
    »Der Unterschied zwischen einer Seidentapete und abgewaschenem Holz ist geringer, als man denkt. Die menschliche Gewohnheit führt uns in die Irre«, sagte der Doktor.
    »Sie sind hier wohl so ein bißchen der liebe Gott?«
    »Nein«, entgegnete er einfach, »mehr. Weil es näherliegt: der Vater.«
    Er lächelte. »Man hat sich angewöhnt, von Erwachsenen anzunehmen, daß sie auch Erwachsene sind. Das stimmt nicht. Die Jahre nehmen da keine Rücksicht. Sie lügen, denn viele Leute bleiben Kinder. Sie verlieren den Kinderwunsch nie: einen Vater an der Hand zu nehmen.«
    »Diese Hand reichen Sie ihnen?«
    »So gut ich kann«, sagte er, mit dem belustigten Unterton, den ich nun schon kannte.
    »Was hat dieser Mann? Der
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