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Die geheime Sammlung

Die geheime Sammlung

Titel: Die geheime Sammlung
Autoren: Polly Shulman
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    Kapitel 1
    Ich bekomme ein Geschenk und darf mich vorstellen
    E s schneite große, klebrige Flocken, die mir unter den Kragen wehten, weil mein oberster Knopf fehlte. Wegen des Wetters hatte meine U-Bahn Verspätung, und ich fürchtete, zu spät zum Unterricht zu kommen.
    Vor der Schule kämpfte eine Obdachlose mit einem Einkaufswagen. Ein vorbeifahrendes Taxi warf eine Welle grauen Schneematsches auf, der die Frau samt Wagen in die Gosse stolpern ließ.
    Ich musste ihr einfach helfen. Als ich sie auf die Beine zurückzog, waren ihre Hände wie eisige Klauen. Sie war viel leichter, als sie in ihren massigen Lumpen aussah. »Danke sehr«, sagte sie und schüttelte den Schnee von der Decke, die sie um ihre Schultern geschlungen hatte. Darunter trug sie ein mit Zeitungen ausgestopftes T-Shirt, und an ihren Füßen sah ich zu meinem Entsetzen nichts als Sandalen.
    Die Stundenglocke musste jeden Moment klingeln, aber ich konnte niemanden alleinlassen, der mitten in einem Schneesturm Sandalen trug – nicht, wenn ich noch ein weiteres Paar Schuhe dabeihatte. Ich half ihr, den Wagen wieder aufzustellen, dann nahm ich meine Turnschuhe aus dem Beutel. »Bitte schön!«, sagte ich. »Können Sie die vielleicht gebrauchen?« Vermutlich würden sie ihr nicht passen – ich habe so große Füße, dass es mir selbst peinlich ist –, aber sie wären mit Sicherheit besser als Sandalen.
    Die Frau nahm sie, drehte sie herum und sah sich die Sohlen an. Sie hielt den rechten Schuh nah an ihr Gesicht, als würde sie an ihm schnüffeln. Den linken hielt sie wie ein Telefon an ihr Ohr.
    Schließlich sah sie mich an. Ihre Augen waren überraschend hell, ein strahlend leuchtendes Grau, wie Sturmwolken.
    »Danke«, sagte sie.
    »Möchten Sie auch meine Socken haben? Wohl eher nicht, die müssten mal gewaschen werden.« Sobald ich es ausgesprochen hatte, verstand ich, wie taktlos ich gewesen war. Menschen ohne festen Wohnsitz haben nicht viel Gelegenheit, ihre Wäsche zu waschen. An dreckige Socken sind sie vermutlich gewöhnt.
    Einmal mehr bedankte sie sich und roch jetzt an den Socken, überlegte es sich dann aber offensichtlich anders. Als ich mich zur Schule umdrehte, sagte sie: »Warte.« Sie durchwühlte die Taschen in ihrem Einkaufswagen, während der Schnee noch immer stetig in meinen Kragen fiel und schmolz. Ich wurde ungeduldig, wartete aber, bis sie gefunden hatte, was sie suchte, und es mir hinhielt. »Achte gut darauf.«
    »Ähm … Danke.«
    Es war ein 2 er Bleistift – ein ganz normaler gelber, mit einem rosa Radiergummi, wie die, die man in den Hochschulzulassungsprüfungen benutzt. Ich steckte ihn in meine Tasche, zog meinen Schal enger und drehte mich zum Schuleingang um.
    »Beeil dich, Elizabeth, du bist spät dran«, sagte eine strenge Stimme. Mein Gemeinschaftskundelehrer, Mr.Mauskopf, hielt mir die Tür auf. Er war mein Lieblingslehrer, obwohl er beängstigend streng war.
    Die Obdachlose winkte ihm kurz zu, und Mr.Mauskopf nickte zurück, als die Tür hinter uns ins Schloss fiel. Ich bedankte mich bei ihm und rannte zu meinem Spind, während es zur Stunde klingelte.
    Den Rest des Tages ging es abwärts. Ms.Sandoz ließ mich barfuß Volleyball spielen, als sie sah, dass ich keine Turnschuhe dabeihatte, und die bezaubernde Sadie Cane sowie Jessica Farmer nutzten die Gelegenheit, um Tritt-der-Neuen-aus-Versehen-auf-den-Fuß zu spielen. Danach gab uns Mr.Mauskopf in Gemeinschaftskunde ein Referat auf, das wir über Neujahr schreiben sollten. Die Weihnachtsferien waren damit erledigt.
    »Wähle klug, Elizabeth«, sagte Mauskopf, als er mir die Liste der möglichen Themen gab.
     
    Meine Stiefschwester Hannah rief mich abends an, weil ich ihr ihr schwarzes Spaghetti-Top schicken sollte. Sie hatte es mir gegeben, als sie ins College ging, aber Hannahs Geschenke blieben selten lange Geschenke.
    »Was machst du gerade?«, fragte sie.
    »Ich denke über ein Themenpapier in Gemeinschaftskunde nach. Europäische Geschichte bei Mr.Mauskopf.«
    »Ich erinnere mich an Mauskopf, was für ein Freak! Trägt er immer noch diese grüne Fliege? Und vergibt er noch Tadel, wenn er dich dabei erwischt, dass du auf die Uhr schaust?«
    »Jap.« Ich zitierte ihn: »Die Zeit wird von allein vergehen. Und du? Wirst du die Versetzung bestehen?«
    Hannah lachte. »Worüber schreibst du?«
    »Die Brüder Grimm.«
    »Die Märchenonkel? Für Mauskopf? Bist du verrückt?«
    »Sie standen auf der Liste der möglichen Themen.«
    »Sei keine
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