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Die geheime Sammlung

Die geheime Sammlung

Titel: Die geheime Sammlung
Autoren: Polly Shulman
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Gans. Ich wette, er hat das nur auf die Liste geschrieben, um zu sehen, wer blöd genug ist, zu glauben, Märchen seien Geschichte. He, ich glaube, ich hab noch meine Arbeit aus dem Schuljahr. Die kannst du haben, wenn du magst. Ich würde sie gegen, hm, deine guten Kopfhörer tauschen.«
    »Nein, danke«, sagte ich.
    »Bist du sicher? Ich habe über die Pariser Kommune geschrieben.«
    »Das ist geschummelt. Und außerdem würde es Mr.Mauskopf merken.«
    »Wie du willst. Schick mir das Spaghetti-Top morgen, okay? Ich brauche es am Samstag.« Sie legte auf.
    Ich kaute auf dem Bleistift herum, den ich von der Obdachlosen bekommen hatte, starrte auf das Thema, das ich ausgesucht hatte, und fragte mich, ob ich Hannahs Tipp beherzigen und das Thema wechseln sollte. Mr.Mauskopf nahm Geschichte sehr ernst, und Märchen hörten sich nicht gerade ernsthaft an. Aber wenn er nicht wollen würde, dass wir über die Brüder Grimm schrieben, wieso hätte er sie dann auf die Themenliste setzen sollen?
    Märchen hatten in meiner Kindheit eine große Rolle gespielt. Ich hatte auf dem Schoß meiner Mutter gesessen, während sie laut vorlas, und so getan, als könne ich mitlesen – bis ich schließlich feststellte, dass ich es tatsächlich konnte. Später, im Krankenhaus, als Mama zu krank war, um ein Buch zu halten, war es meine Aufgabe gewesen, unsere Lieblingsgeschichten laut vorzulesen.
    Alle Geschichten endeten glücklich. Aber Mama war trotzdem gestorben.
    Ich überlegte: Wenn sie noch am Leben wäre, hätte es ihr bestimmt gefallen, dass ich mehr über die Männer lernte, die diese Geschichten geschrieben hatten. Ich entschied mich, bei dem Thema zu bleiben.
    Und so merkwürdig sich das anhören mag, sobald ich mich entschieden hatte, freute ich mich plötzlich auf die Arbeit. Es war eine spannende Aufgabe. In den Ferien würde ich allein sein, denn meine beste Freundin Nicole war nach Kalifornien gezogen. Ich hatte in den vier Monaten an der Fisher, der neuen Schule, noch keine neuen Freunde gefunden. Und die Mädchen, mit denen ich meine Zeit sonst verbracht hatte, waren alle zu sehr mit dem Ballett beschäftigt, um noch Zeit für mich zu haben.
    Der Ballettunterricht fehlte mir, aber Papa meinte, dass wir uns das nicht mehr leisten könnten, da er die Studiengebühren für meine Stiefschwestern bezahlen musste. Und ich würde ja sowieso nie eine professionelle Tänzerin werden, ich sei nicht ehrgeizig genug und meine Füße seien zu groß.
    Märchen sind vielleicht keine Geschichtsschreibung, aber Wilhelm und Jakob Grimm waren Sprachhistoriker, wie ich in den Weihnachtsferien, während der vielen Stunden in der Bibliothek, feststellte. Sie hatten ihre Geschichten nicht erfunden, sondern gesammelt, schrieben auf, was sie von Freunden und Dienern, Adligen und Töchtern von Schenkenbesitzern hörten.
    Ihre erste Geschichtensammlung richtete sich an Erwachsene, und ich verstand auch, warum: Für Kinder waren die Märchen viel zu blutrünstig und gruselig. Selbst die Helden brieten Leute in Öl und fütterten sie mit glühenden Kohlen. Kurz stellte ich mir vor, Disney würde aus
Das Mädchen ohne Hände
ein Musical machen – der Geschichte eines Mädchens, dem sein Vater die Hände abgeschnitten hatte, damit er einen Pakt mit dem Teufel einhalten konnte.
    Ich war mir ziemlich sicher, dass ich das Referat gut gemacht hatte, und war trotzdem nervös, als ich es abgab. Mr.Mauskopf bewertete ziemlich streng.
    Ein paar Tage nach Ferienende fing mich Mr.Mauskopf in der Pausenhalle ab, er zeigte mit ausgestrecktem Finger und Arm auf mich. Es sah immer so aus, als hätte er doppelt so viele Ellbogen und Knöchel wie andere Menschen. »Elizabeth! Komm in der Mittagspause zu mir«, sagte er. »In mein Büro.«
    Sollte ich Ärger bekommen? War meine Arbeit so schlecht? Hatte Hannah recht gehabt – hatte ich irgendeinen Test verpatzt?
    Die Tür zum Büro der Abteilung Gemeinschaftskunde war offen, also klopfte ich an den Türrahmen. Mr.Mauskopf winkte mich herein. »Setz dich.«
    Ich setzte mich auf den Rand eines Stuhls.
    Er gab mir mein Referat zurück, der Länge nach in der Mitte gefaltet. Die Rückseite hatte er mit Anmerkungen in der für ihn typischen braunen Tinte beschrieben. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und sah auf die Note.
    »Gute Arbeit, Elizabeth«, sagte er. War das ein Lächeln auf seinem Gesicht? Fast.
    Ich öffnete das Referat. Er hatte mir eine Eins gegeben. Ich lehnte mich zurück und atmete vor Erleichterung
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