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Die geheime Sammlung

Die geheime Sammlung

Titel: Die geheime Sammlung
Autoren: Polly Shulman
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aus. »Danke sehr.«
    »Wieso hast du dieses Thema gewählt?«
    »Ich weiß nicht … Ich mochte Märchen schon immer. Sie wirken so … realistisch.«
    »Realistisch? Das ist eine ziemlich ungewöhnliche Sichtweise«, sagte er mit der Andeutung eines Lächelns.
    »Sie haben recht.« Ich fühlte mich dumm. »Ich wollte eigentlich sagen: Alle grausamen Dinge, die in Märchen geschehen, wirken real. Nicht real, aber authentisch. Das Leben ist unfair, die Bösen gewinnen, und gute Menschen sterben. Aber so endet es nicht immer, und das mag ich. Wenn zum Beispiel die Mutter stirbt und auf ihrem Grab ein Baum wächst, der ihrer Tochter hilft, oder wenn der Junge, den alle für einen Trottel halten, herausfindet, wie man den Riesen überlistet. Das Böse ist real, aber das Gute auch. Man sagt immer, Märchen wären simpel, schwarz und weiß, aber ich glaube das nicht. Ich finde, sie sind
vielschichtig
. Das mag ich an ihnen.«
    »Ich verstehe.« Mr.Mauskopf warf einen Blick in seinen Terminkalender. »Du bist dieses Jahr neu an die Schule gekommen, richtig?«
    Ich nickte. »Früher bin ich auf die Chase gegangen, aber nun sind meine beiden Stiefschwestern auf dem College, und die Studiengebühren …« Ich stockte und schämte mich ein bisschen, weil ich über die finanziellen Verhältnisse meiner Familie gesprochen hatte.
    »Ach, du hast also Stiefschwestern. Ich hoffe, sie sind nicht von der bösen Grimm-Sorte?«
    Ich zögerte. »Ein bisschen.« Veronica ist viel älter, und Hannah hatte es schon immer gehasst, ihr Zimmer mit mir zu teilen. Schon immer bedeutete: seit mein Vater und ich eingezogen waren. Hannah mochte es, jemanden zum Herumschubsen zu haben, so wie sie einst von Veronica herumgeschubst worden war. Und sie nahm stets meine Sachen, gab mir ihre jedoch nie. Aber all das konnte ich natürlich nicht erzählen. Es fühlte sich irgendwie falsch, unloyal an. Stattdessen sagte ich: »Meine Stiefschwester Hannah war in Ihrer Klasse, Hannah Vane.«
    »Kein weiteres Wort nötig.« Mr.Mauskopf schenkte mir die Andeutung eines Lächelns, als würden wir gemeinsam über einen Scherz lachen. Dann fragte er: »Hast du dir schon neue Turnschuhe geholt?«
    »Turnschuhe?«
    »Ich erinnere mich, gestern gesehen zu haben, wie du deine verschenkt hast. Sehr großzügig von dir.«
    Um nicht schon wieder auf unsere peinliche Situation zurückkommen zu müssen, murmelte ich: »Ich hatte noch keine Gelegenheit dazu.«
    »Ich verstehe.« Er räusperte sich. »Nun, Elizabeth, das ist alles sehr zufriedenstellend. Hättest du gern einen Job?«
    »Einen Job? Was für einen Job?«
    »Einen Nachmittags-Job. Ein Freund von mir aus dem New Yorker Repositorium der Verleihbaren Schätze sagte mir, sie hätten eine Stelle frei. Es ist großartig dort. Ich habe dort gearbeitet, als ich so alt war wie du.«
    Ich versuchte, ihn mir in meinem Alter vorzustellen, scheiterte aber an seiner Fliege. »Ist das so etwas wie eine Bibliothek?«
    »Wie eine Bibliothek. Genau so ist es.«
    »Klar – ja, bitte«, sagte ich, »das würde mir gefallen.« Ein Job, das bedeutete Geld, etwa für neue Sportschuhe. Und ich hatte ohnedies niemanden, mit dem ich meine Zeit hätte verbringen können.
    Alle an der Fisher kannten einander seit Urzeiten und taten sich schwer damit, sich an mich, die Neue, zu gewöhnen. Aber dann hatte ich zu allem Überfluss den Fehler gemacht, zu Mallory Mason zu halten, als ein paar der coolen Mädchen Lieder über ihr Gewicht und ihre Zahnspange erfanden. Das Schlimmste aber war: Ms.Stanhope, die stellvertretende Direktorin, hatte gehört, wie ich Partei für Mallory ergriff. In ihrem nächsten »Klassengespräch« lobte sie mich als Vorbild für »mitfühlendes Führungsverhalten«. Danach wollte niemand mehr etwas mit mir zu tun haben. Außer Mallory natürlich. Die ich, um ehrlich zu sein, selbst nicht mochte.
    Man weiß ja nie. Vielleicht, so dachte ich, würde ich in dem Job in der Bibliothek Freunde finden.
    Mr.Mauskopf zog den Füllfederhalter aus seiner Brusttasche, schrieb eine Nummer auf ein Stück Papier, faltete es der Länge nach, klemmte es zwischen Zeige- und Mittelfinger und reichte es mir. »Ruf an und frag nach Dr.Rust«, sagte er.
    »Danke, Mr.Mauskopf.« Die Klingel ertönte, und ich rannte zu meiner nächsten Unterrichtsstunde.
    Als ich am Nachmittag nach Hause kam, ging ich direkt in mein Zimmer. Um das Wohnzimmer machte ich einen großen Bogen, damit Cathy, meine Stiefmutter, mir nicht irgendwelche
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