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Unscheinbar

Unscheinbar

Titel: Unscheinbar
Autoren: Anja Berger
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hervor.
    Grob riss er ihren Kopf näher zu sich, sah sie funkelnd an und stiess sie weg.
    Sie konnte sich nicht abstützten und schlug hart auf. Scharf sog sie die Luft ein.
    „Wer ich bin? Die Frage ist vielmehr, wer bist du? Tochter von Gregor und Sandrine. Die einzige, die mir durch die Lappen gegangen ist und das nur wegen meinem ach so überfürsorglichen Bruder Martin.“
    Dann war er nicht Martin. Das war doch schon einmal etwas.
    „Mich hat man immer nur belächelt oder ignoriert, ihn hat man angehimmelt und bewundert. Er konnte alles haben. Genauso wie Gregor. Der schlaue Gregor. Der Bücherwurm. Dabei waren Streber doch in der Regel unattraktiv. Nicht so Gregor. Ich verstehe heute noch nicht wie, aber er eroberte die erste Frau, die ich zu lieben wagte. Und was tat er mit diesem schützenswerten Wesen? Er tötete sie.“
    Gregor tötete seine Geliebte? Überrascht riss Emma die Augen auf.
    „Aber nicht nur er ist für ihren Tod verantwortlich. Du trägst genauso viel Schuld.“
    Wie bitte?
    „Und deshalb hast du den Tod ebenso verdient wie alle anderen Sünder meiner Familie.“
    „Ich? Wieso ich? Ich habe nichts getan! Ich wusste bis gerade eben noch nicht einmal, wer ich bin!“
    „Er hätte euch beschützen müssen. Er hat es aber nicht getan. Er hat sie umgebracht und du warst die Waffe. Sein Samen hat das tödliche Gift direkt in ihren Körper gepflanzt.“
    „Sie starb bei meiner Geburt. Aber dafür kannst du doch ihm nicht die Schuld geben! Und schon gar nicht mir! Ich war ein Baby!“
    Der Wahnsinn stand in seinen Augen.
    In Emma stieg Panik auf.
    „Ach nein? Er hat den Zorn Gottes heraufbeschworen. Er schwängerte sie ohne verheiratet zu sein. Er brachte Gott gegen ein unschuldiges Mädchen auf. Nicht einmal ihre eigene Mutter konnte über diesen Frevel hinwegsehen. Weisst du, dass Sandrines Mutter sie deswegen auf die Strasse gestellt hatte? Sandrine kam zu uns. Mit offenen Armen wurdet ihr aufgenommen. Der fleischgewordenen Sünde Einlass gewährt. Und meine Eltern sahen nur tatenlos zu. Mir schenkten sie kaum Vertrauen, verstiessen mich, indem sie mir nichts zumuteten. So wie alle anderen auch. Aber einer offensichtlichen Sünde meines Bruders sahen sie nachsichtig zu.“
    Sie verstiessen ihn, indem sie ihm nichts zutrauten. Die Worte hallten in Emmas Ohren wider. Eine Erinnerung grub sich den Weg zurück in ihr Gedächtnis.
    Das Männchen, das überall herablassend behandelt und verstossen wurde und zur Strafe eine Felslawine schickte, die das ganze Dorf unter sich begrub.
    Das war es also. Deshalb lag der einst so wundervolle Hof heute unter Felsen begraben.
    Emma konnte nicht mehr weiter darüber nachdenken. Der Mann, den sie als Martin kannte, wandte sich ab. Er ging an den hinteren Teil seines Pickups zurück. Dann griff er nach ihrem Fuss.
    Emma trat wild um sich. Dennoch erwischte er ihr Fussgelenk. Er zog sie mit einem kräftigen Ruck zu sich und löste die Fessel.
    „So. Jetzt werde ich auch dir zeigen, wozu ein allseits unterschätzter Antonius Reich fähig ist.“
    Antonius.
    Emma dachte fieberhaft nach. Doch musste sie sich eingestehen, dass dieser Name in ihr nur eine Erinnerung wachrief. Der gutgläubige, schwachsinnige Stotterer. Auch sie hatte den Mann dahinter einfach ignoriert und übersehen. Obwohl sie ihn nicht einmal gekannt hatte.
    „Komm.“ Er riss erneut an ihren Beinen.
    Emma überlegte angestrengt, wie sie ihm entkommen könnte.
    Müssten Ben und Alice ihre Abwesenheit nicht schon lange bemerkt haben? Oder glaubten sie, nach der Erkenntnis des Abends würde sie sich alleine die Beine vertreten wollen?
    Nein. Das würden sie nicht denken. Nicht nach allem, was geschehen war.
    Sie musste Zeit gewinnen.
    Während er zog, rutschte sie von der Ladefläche. Sie landete auf den Füssen, hatte aber kein Gefühl in den Beinen. Sie knickte ein und fiel auf die Erde. Er griff schroff unter ihren Arm und zog sie hoch.
    Er zerrte sie vom Auto weg.
    Emma stolperte unbeholfen neben ihm her.
    Selbst wenn sie sich hätte wehren wollen, die Kälte und die Schmerzen schwächten sie zu sehr.
    „Was hast du mit mir vor?“
    „Das wirst du schon sehen.“ Er blieb stehen.
    Zum ersten Mal hatte Emma Augen für die Umgebung. Entsetzt wich sie zurück.
    Sie sah den Balken, wie er sich düster und bedrohlich vom Nachthimmel abhob.
    Und das Seil, das im Wind leicht hin und her wehte.
    Als würde es ihr zuwinken.
    Sie konnte die Augen nicht abwenden. „Nein“, flüsterte sie,
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