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Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren
Autoren: Arne Dahl
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lag.
    In dem Moment machte der Fotograf das beste Bild des Tages.

4
     
    Gedankenlesen, dachte er. War so etwas wirklich möglich? Und wenn ja, passierte es ihm gerade? Saß da draußen jemand und zoomte seine Gedanken heran und lachte darüber, wie klein sie waren? Darüber, wie sie sich wiederholten?
    Denn das war jetzt fast der einzige Gedanke, der ihn beschäftigte.
    Am Tage war er ein wenig lächerlich. Dann konnte er selbst darüber lachen. Aber nachts entwickelte er sich zu einer Heimsuchung. Da war für Lachen kein Platz.
    Keinerlei Platz.
    Eng. Alles war inzwischen eng. Nirgendwo gab es Platz. Nachts rückten die Wände so dicht heran.
    Er war noch nie zuvor in der Nähe einer Haftanstalt gewesen. So etwas hatte in seiner Vorstellungswelt kaum existiert. Es ging irgendwo anders vor sich. Auf der Schattenseite der Gesellschaft. Wohin die Blicke gewöhnlicher Menschen nie gelangten.
    Und er durfte sich wohl als einen ziemlich gewöhnlichen Menschen bezeichnen. Ein Haus in Bagarmossen. Nichts Extravagantes. Eine ziemlich normale Familie mit Kindern im Teenageralter und allzu intensivem Kontakt mit den Nachbarn. Journalist, ohne sich direkt hervorzutun. Ehrenauftrag nach ein paar Jahrzehnten bei einem der Stockholmer Boulevardblätter. Ungefähr wie eine goldene Armbanduhr.
    Und es sollte so einfach werden. Endlich ein richtiger Selbstgänger. Drastisch verringerte Redaktionsarbeit, keine trostlosen Reportagereisen mehr, keine versauten Wochenenden. Überhaupt ein bisschen weniger Anstrengung. Zwei Fernsehchroniken pro Woche, und das würde fast seinen Vollzeitjob abdecken.
    Wie geschmiert würde es laufen, die gut zehn Jahre bis zu seiner Pensionierung. Eine angenehme, beneidenswerte Existenz.
    Er war kein Intellektueller, kein Kultursnob, kein Intelligenzaristokrat. Er war ein ganz gewöhnlicher Journalist, der die Feuilletonseiten verachtete und sie als Luxus betrachtete. Täglich bediente er sich des sogenannten Feuilletonseitengriffs, was bedeutete, mittels einer speziellen Umblättertechnik das Feuilleton zu überblättern, ohne auch nur daran zu denken.
    Nein, er war ein höchst normaler Journalist mit Wertvorstellungen, die seiner Meinung nach recht gut mit denen des durchschnittlichen Schweden übereinstimmten. Er war ein weißer Mann aus der Mittelschicht in den fortgeschrittenen mittleren Jahren, dessen Frau ihm täglich Essen machte, der das Militär, den Automobilismus und den Industrialismus verteidigte, der Fußball und Leichtathletik im Fernsehen und Strömlingfischen in der Wirklichkeit liebte, der dann und wann ein paar Hunderter auf Pferde setzte und davon überzeugt war, dass mindestens fünfundneunzig Prozent der Verbrechen im Lande von bekifften Einwanderern verübt wurden. Er hatte durchaus die Voraussetzungen dafür, wie geschmiert durchs Leben zu surfen.
    Wie mit einem Lottogewinn, ungefähr.
    Okay, er hatte seinerzeit nicht besonders viel ferngesehen. Filme und Sport und einzelne Unterhaltungsprogramme im staatlichen Fernsehen. Seine Stimme sollte ›Volkes Stimme‹ repräsentieren, neben den Stimmen der kenntnisreichen Experten. Die Redaktion hatte sich wohl die eine oder andere leichtsinnige Verteidigung lockerer Unterhaltung vorgestellt.
    Ungefähr wie in der eigenen Zeitung.
    Und so fing er an fernzusehen. Viel. Er sah Tag und Nacht fern. Alle Kanäle. Es war Teil seiner Arbeit. Ein Digitalfernseher als Gehaltsaufbesserung.
    Der erotische Traum des Schweden.
    Und trotzdem kam es, wie es kam.
    Ohne zu verstehen, wie und warum und aus welchen Tiefen, baute er den allerheiligsten Zorn auf, den er je in seinem ganzen normal temperierten Leben empfunden hatte.
    Er traute seinen Augen nicht.
    War es tatsächlich möglich, dass dies das Leben so vieler Menschen bestimmte? Dieser – Mist war eine zu schwache Bezeichnung. Er fand keinen Ausdruck, der niedrig genug war. Er konnte sich nicht damit abfinden, dass etwas Derartiges in die menschliche Sphäre eingedrungen war.
    Und er hatte geglaubt, recht abgestumpft zu sein. Auf festem Grund und Boden.
    Es war einfach sagenhaft, was da vierundzwanzig Stunden lang ins Bewusstsein der Menschen geflimmert wurde. Konstant verdummende Werbung mit kurzen Unterbrechungen für noch mehr verdummende Programme. Soaps, Dokusoaps, Spiel- und Quizprogramme, Sexsofas’ mit Pseudopromis, sogenannte Dokumentationen bar jeder Recherche, immer dürftigere Sportproduktionen. Sogenannte Formate, die wahllos für Fantasiesummen aus allen Ländern gekauft wurden.
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