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Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren
Autoren: Arne Dahl
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    Das Land, in dem die Nächte den ganzen kurzen Sommer über immer dunkler werden, dachte sie. Es ist mein Land.
    Und genau dieser Gedanke war verboten.
    Es ging nicht mehr. Es konnte so nicht weitergehen. Heute Nacht, in dieser hellen Sommernacht, sollte eine Veränderung eintreten. Auf die eine oder andere Weise.
    Sie wollte nicht hinausgehen und sich dem Sog der nordischen Angst dieser schönen Sommernacht aussetzen. Diesem seltsam schönen, süß ziehenden Schmerz, der bis ins Mark drang.
    Der Wehmut.
    Noch nicht richtig.
    Sie blieb stehen und sah durchs Treppenhausfenster hinaus. Ein wenig unbeteiligt. Von der Seite. Immer noch durchs Fenster.
    Es war wie ein Gemälde.
    Und das einzige Motiv war das nackte, reine Mittsommerlicht.
    Und es ist meins, dachte sie. Ich habe es mir verdient. Ich habe ein Recht darauf. Das, wenn nichts sonst, hat mich eingeladen.
    Dann trat sie hinaus in die helle Nacht.
    Hell und rein. Und kalt. Sie hielt einen Augenblick inne und setzte sich der Kälte aus. Bis sie schauderte. Das Schaudern setzte sie in Bewegung.
    Bald war die hellste Nacht des Jahres. Bald würden die Nächte wieder länger werden. Sommer konnte man es noch nicht nennen. Nicht im Ernst. Man konnte doch diese Eiseskälte nicht im Ernst Sommer nennen. Ihr Körper, wenn nichts anderes, erinnerte sich an ganz andere Sommer.
    Sie wollte nur ihr Leben weiterleben. Ihr eigenes. Das war alles. Und das durfte sie nicht.
    Nedim. Die Trauer überfiel sie. Mit voller Wucht.
    Sie musste stehen bleiben. Ihr Herz erstarrte zu Eis.
    Nedim. Mein Bruder. Nedim und Naska. Nur ein Jahr zwischen ihnen. Immer zusammen. Immer füreinander da. Immer bereit. So nah, wie man sich nur kommen kann. Die kleinen Geschwister.
    Wie ähnlich wir uns waren.
    Wie unglaublich ähnlich.
    Aber jetzt nicht mehr.
    Sie wanderte weiter durch das menschenleere Hochhausgebiet. Es war zwanzig nach zwei in der Nacht und taghell. Als wäre die Welt leer. Vollständig leer – bis auf ein klares, klares Licht.
    Und sie selbst.
    Nedim, warum musste es so kommen? Warum war es nicht möglich, sich zu lösen? Alles, was ich will, ist leben.
    Die Unterdrückung durch die Unterdrückten.
    Neuer Name, neue Telefonnummer, neue Adresse, neue Stadt – es reichte nicht. All die Mühe, die du darauf verwendet hast, mich zu finden, Nedim, kann man sie als Liebe deuten? Als verzerrte Bruderliebe?
    Stockholm hätte mich schlucken sollen, aber du hast mich gefunden. Du hast nach einer Nadel im Heuhaufen gesucht, und du hast sie gefunden. Aber sie wird dich stechen. Es kommt nur darauf an, zuerst zu stechen. Denn Wörter werden niemals reichen. Wörter haben mit der Sache nichts zu tun. Er benutzte Wörter nicht auf diese Art und Weise. Als Gespräch. Als Dialog.
    Das Telefongespräch gestern Abend. Nicht viele Wörter. Die Wörter als Maskierung. Als ob er ein geschäftliches Gespräch führte.
    »Wir müssen uns treffen, Naska.«
    »Ich heiße nicht Naska. Ich heiße Rosa.«
    Am Wegrand wuchsen überall Blumen. Sie pflückte eine und betrachtete sie. Sie war lila und roch komisch.
    Sieben Sorten Blumen unter dem Kopfkissen, und die Mittsommernacht würde magisch sein. All diese merkwürdigen Wörter: Kommt, Lilien und Akeleien, kommt, Rosen und Salbei, komm, liebliche Krausminze, komm, Herzensfreude.
    Was war eine Akelei?
    Asphaltblumen mussten reichen, dachte sie und lächelte schief. Sie pflückte eine welke blaue. Noch fünf, und ihre Wünsche würden in Erfüllung gehen, die Welt würde verwandelt sein.
    Die Nacht magisch werden.
    In gewisser Weise war sie es schon. Dieser Sog. Der Klumpen in der Magengegend. Das Licht, das im Hals in die Irre ging.
    Nur eins sprach dafür, dass sie die Nacht überleben würde.
    Und das war nicht das Messer. Das alberne kleine Schweizer Klappmesser in ihrer Tasche. Das sie außerdem erst aufklappen musste, um es zu benutzen. Sie pflückte noch eine Blume, eine stark verzweigte gelbe. Natürlich würde sie das Messer aufklappen. Sobald sie sieben Sorten Blumen hatte, um sie in die Handtasche zu legen.
    Aber nicht vorher.
    Das Flüchtlingslager in Schonen. Sie war sechs, er sieben. Während sie warteten, lernten sie Schwedisch. Aber vor allem badeten sie. Der kleine See. Das eiskalte schwedische Wasser. Zu dem sie heimlich schlichen. Nedim und Naska.
    Die kleinen Geschwister.
    Warum nicht einfach die Polizei rufen? Warum nicht dafür sorgen, dass die Polizei am Treffpunkt ist?
    Weil es ein Ende haben musste. Weil sie – obwohl er
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