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Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren
Autoren: Arne Dahl
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aufnahm und in ihren Strauß steckte, schoss es ihr durch den Kopf, dass sie tatsächlich wusste, wie diese Blume hieß.
    Akelei.
    Ganz still öffnete sie ihre Handtasche und legte den Strauß mit sieben verschiedenen Sorten Blumen neben das ungeöffnete Schweizer Klappmesser.
    Dann schloss sie die Tasche.
    Rührte sich nicht. Atmete.
    Und aus Tiefen, die sie für ausgestorben gehalten hatte, stieg ein Weinen auf, das sich mit dem schwedischen Mittsommerlicht zu einem uralten Trauergesang vereinte, älter als alle menschlichen Grenzen.

3
     
    Der Fotograf schloss sich auf dem Weg durch die Korridore einem Paar mit Zwillingskinderwagen an. Sie schienen sich auszukennen.
    Der Familienvater, mit seiner schweren Lederjacke wohl eine Spur zu warm angezogen, warf ihm einen Blick zu und nickte kurz. Er war ein großer Mann in den Fünfzigern mit einem in die Länge gezogenen, gelangweilt wirkenden Gesicht. Aus dem Zwillingskinderwagen blickten zwei hübsche Mädchen auf. Sie waren etwa zwei und drei Jahre alt, und beide hatten ihres Vaters lang gezogene Gesichtsform. Es sah ziemlich lustig aus.
    »Warte, Viggo«, rief die Ehefrau hinter ihm. Der Mann stöhnte hörbar und brachte das Gefährt mit einer Vollbremsung zum Stehen.
    »Wir sind schon zu spät dran«, sagte er ungnädig. »Was ist denn jetzt schon wieder?«
    »Wir müssen die Blumen auswickeln, man soll doch nicht sehen, dass sie aus dem Konsum sind«, sagte seine Frau.
    »Es ist noch ein gutes Stück, das kannst du im Aufzug machen.«
    »Im Aufzug gibt es Überwachungskameras«, sagte seine Frau und kämpfte mit dem Papier des mittelmäßigen Blumenstraußes. »Warum muss dieses Fest überhaupt im Polizeipräsidium stattfinden?«
    »Was ist denn daran nicht in Ordnung?«
    »Es ist ein Labyrinth. Niemand findet hin. Sieh doch nur den Mann neben dir.«
    Der Mann in der Lederjacke drehte sich um und blickte auf den Fotografen hinunter. »Wollen Sie auch hin?«, fragte er. »Zum Fest?«
    »Ja«, nickte der Fotograf. »Ich bin der Fotograf. Ich habe mich wirklich ein bisschen verlaufen.«
    »Aha«, sagte der Mann und streckte ihm die Hand hin.
    »Sie haben mir den Job abspenstig gemacht. Sonst bin ich der Mann mit der Kamera. Die Kollegen sagten, sie wollten diesmal eine etwas professionellere Arbeit.«
    Der Fotograf ergriff die Hand und schüttelte sie, doch bevor er sich vorstellen konnte, rief die Frau: »So, das war’s, ich hoffe nur, er sieht nicht, dass die Tulpen verfault sind.«
    »Du meinst ›verwelkt‹. Man sagt ›verwelkt‹ bei Blumen.«
    »Nein, ich meine ›verfault‹.«
    Nach einer ausgedehnten Wüstenwanderung erreichten sie den Aufzug. Die Kinder starrten den Fotografen misstrauisch an, während er die große Kamera auspackte und das Blitzlicht aufschraubte. Worauf das ältere Mädchen dem jüngeren eine Rassel übers Jochbein schlug und beide ein Heulkonzert anstimmten.
    »Charlotte!«, rief der Mann mit untröstlicher Stimme und schnappte sich die Rassel.
    Da glitten die Aufzugtüren zur Seite, und zwanzig Augenpaare richteten sich auf sie. Von der Decke des Saals hing ein großes Spruchband herab und verkündete in knallroten Buchstaben: ›Endlich! Hultin geht in Pension!‹ In etwas kleineren, anscheinend vor kurzem erst geschriebenen Buchstaben stand darunter: ›Wie Schwedens Nationalmannschaft!‹
    Die brüllende Familie befreite sich aus dem Aufzug, und ein auffallend weißhaariger Mann trat ihnen entgegen; er schien der Einzige zu sein, der sich in ihre Nähe wagte.
    »Für mich?«, sagte er in finnlandschwedischem Tonfall und griff nach der Rassel. »Das wäre aber nicht nötig gewesen.«
    »Schnauze«, erwiderte der Mann in der Lederjacke und schnappte sich die Rassel wieder.
    »Und ausgerechnet heute scheidet Schweden gegen Senegal aus«, fuhr der Weißhaarige fröhlich fort. »Das hätte Finnland besser gemacht.«
    »Was redest du da?«, murmelte die Lederjacke. »Glaubst du, ich hätte Zeit, mir die Fußball-WM anzusehen? Alles, was ich mache, wenn ich zu Hause bin, ist, Windeln zu wechseln.«
    »Wo haben wir denn den Jubilar?«, fragte die Ehefrau hinter seinem Rücken.
    »Bist du auch noch da, Astrid?«, fragte der Weißhaarige, schob den Großen zur Seite und umarmte sie: »Was für flotte Tulpen.«
    »Still, Arto«, stieß sie hervor. »Glaubst du, er merkt was?«
    »Er merkt nichts. Er schwebt auf Champagnerperlen.«
    Der Aufzug leerte sich. Der Fotograf blieb allein zurück. Er schoss ein Bild von dem Mann mit dem weißen
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