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Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren
Autoren: Arne Dahl
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Die Werbung erschien plötzlich als ein versöhnlicher Zug des Mediums.
    Wie kam es, dass die gesamte westliche Welt in nur wenigen Jahren jedes grundlegende Gefühl für Qualität verloren hatte?
    Plötzlich war ihm klar – wie in einer religiösen Offenbarung –, dass die Geschichte diese Epoche als verloren einstufen würde. Eine tote Zeit. In der Generation auf Generation mental eingeschläfert wurde – mit Billigung der Regierungen. In der Kinder nie die Chance bekamen, erwachsen zu werden, und Erwachsene zu Kindern degradiert wurden – allerdings zu Kindern ohne jede Kreativität oder Intelligenz. Ohne all das, was Kindheit eigentlich bedeutet.
    Seine erste Fernsehchronik gestaltete sich zu einer rasenden Attacke gegen das auf Werbung basierende Fernsehmedium ganz allgemein. Es war die erste seit undenklichen Jahren. Ein Text, der sich so drastisch vom Rest der Zeitung abhob, dass er eine enorme Durchschlagskraft bekam.
    Es war Zufall, dass er nicht rausgestrichen wurde. Der Redakteur musste ganz einfach gepennt haben.
    So kam es, dass ausgerechnet er – gegen jede Wahrscheinlichkeit – zum Feind Nummer eins der Fernsehindustrie wurde. In einer der größten Tageszeitungen des Landes, einer der am meisten gelesenen Publikationen aller Kategorien.
    Zuerst bekam die Redaktion einen Schluckauf. Der Chefredakteur beschimpfte ihn nach allen Regeln der Kunst und feuerte ihn kurzerhand. Dann kamen die Reaktionen – auf den Feuilletonseiten, nun gut, doch vor allem von sogenannten Normalbürgern, Menschen, wie er selbst einer war. Endlich, hieß es, endlich jemand, der kein Blatt vor den Mund nahm und das aussprach, was man die ganze Zeit dachte, im Grunde aber zu denken nicht das Recht hatte.
    Dass das ganze Land mit Schund gefüttert wurde. Als ob es Nahrung wäre.
    Und er durfte weitermachen. Er saß zu Hause und wälzte Selbstmordgedanken und grämte sich, als der Chefredakteur anrief und sich entschuldigte. Statt der Entlassung bekam er eine ordentliche Gehaltserhöhung. Plötzlich saß er im Fernsehen und sagte direkt in die Kamera, dass alle aufpassen müssten, dass es so nicht weitergehen könne. Und seine Fernsehchroniken wurden Schwedens meistgelesene Texte.
    Es war fast so, als ob ein einzelner Mensch alles verändern könnte.
    Nach einiger Zeit kristallisierte sich eine ganz besondere Zielscheibe heraus. Ein Hassobjekt. Seine Chroniken richteten sich mehr und mehr auf die selbstständigen Fernseh-Produktionsgesellschaften im Allgemeinen und auf eine von ihnen im Besonderen.
    Es waren die freien Produktionsgesellschaften, die ›Formate‹ aus den USA kauften. Hinter dem irrwitzigen Begriff verbarg sich so etwas wie eine Programmidee. Niemand in Schweden wagte mehr, eigene Vorstellungen davon zu haben, wie Fernsehprogramme gestaltet sein sollten – so etwas musste von Marktführern mit extrem kostspieligen Zuschauerbefragungen im Rücken durchgeführt werden. Stattdessen importierte man lausige amerikanische Ideen, deren Markttauglichkeit schon mit fein geschliffenen wissenschaftlichen Instrumenten getestet worden war. Die Instrumente wiederum hatte man an privat gesponserten Universitäten entwickelt und zielbewusst an der Öffentlichkeit mit der absolut geringsten Allgemeinbildung der westlichen Welt getestet. Dem Kanonenfutter. Den biologischen Einheiten, als deren Lebensaufgabe festgesetzt worden war, hinter den Kapitalstarken die Aufräumarbeiten zu machen und – falls erforderlich – in den Kriegen der Kapitalstarken den Heldentod zu sterben. Die mit Fernsehen gemästet werden sollten. Gefüttert und verarztet und in Schach gehalten wie Schweine in ihren Verschlägen. Fleisch auf Zuwachs. Es galt, sie am Leben und gleichzeitig passiv zu halten. Dafür zu sorgen, dass sie unter keinen Umständen auf die Idee kamen, ihre Boxen zu verlassen und über ihr Leben und ihre Lebensumstände nachzudenken. Künstliches Engagement lautete die Losung. Darauf achten, dass die Gehirne nicht völlig eintrockneten, aber gleichzeitig aufpassen, dass jedes Engagement in garantiert harmlose und werbeempfängliche Bereiche umgelenkt wurde. Dass dann der einzige Protest des Publikums in Gewichtszunahme bestand – dem Anschwellen zu grotesken Proportionen –, konnte als gesunder passiver Protest akzeptiert werden.
    Und jetzt stieg auch das Durchschnittsgewicht des Europäers an, nicht zuletzt das des Schweden, und zwar in rekordverdächtigem Tempo. Bei Kindern ebenso wie bei Erwachsenen.
    Alles in diesen
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