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Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren
Autoren: Arne Dahl
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der Tür zurück, hinter der Stig Nilsson gewohnt hatte. Im zweiten Stock lief er an der kaputten Tür vorbei und sprang die Treppe hinauf in die darüber liegende Wohnung.
    Er blieb stehen, atmete aus, ließ seinen Atem zur Ruhe kommen und drückte auf die Türklinke. Die Tür ging auf.
    Es war eine Zwillingswohnung. Die gleiche konzentrierte Kahlheit. Nichts Unnötiges, nichts – Menschliches. Nur eine Art reiner Fokus.
    Mitten im Wohnzimmer stand ein Schreibtisch. In dessen Mitte ein Computer. Neben dem Bildschirm standen zwei weitere Bildschirme, auf jeder Seite einer. Drei Bildschirme und eine Tastatur. Sonst nichts. Bis auf einen gelben Merkzettel, der an dem mittleren Monitor klebte. Chavez trat näher.
    Auf dem Zettel stand nur: ›Drücke irgendeine Taste.‹
    Er setzte sich an den Schreibtisch und riss den gelben Zettel ab. Er drückte auf eine Taste.
    Auf dem mittleren Bildschirm erschien ein Text. Da stand:
    Hej, Jorge. Es war ein bisschen umständlich, dich hierherzuholen. Du bestimmst jetzt, wie diese Sache hier ablaufen soll. Warum habe ich getan, was ich getan habe? Denk einen Augenblick darüber nach. Dann drückst du auf eine Taste.
    Und Jorge dachte. Aber nur an seine verschwundene Tochter. Was hast du mit ihr gemacht, du Mistkerl? Er drückte auf eine Taste.
    Fünf Menschen, Jorge. Sie sind herausgefischt aus dem Strom von Leiden, der tagtäglich an unseren Türen vorbeifließt. Wenn wir glauben, sie geschlossen zu haben. All das Leid, das existiert und von dem wir uns vorstellen, wir könnten nichts dagegen tun. Oder das uns gleichgültig ist. Diese fünf wollten alle das Falsche zum Richtigen wenden oder einfach überleben, und alle wären gestorben, wenn sie es versucht hätten. Jetzt können sie aufatmen und von einer Zukunft träumen, die sie vorher nicht hatten. Sie sitzen in einem Hotelzimmer an einem geheimen Ort, zusammen mit einem schleimigen Anwalt. Er ist das widersinnige Werkzeug der Gerechtigkeit, die ihnen zuteil wird. Willst du sehen? Drück eine Taste.
    Chavez drückte eine Taste. Der linke Bildschirm hüstelte und zeigte einen eleganten Herrn, der vor fünf Menschen auf einem Sofa auf und ab ging. Chavez wusste, wer sie waren: Naska Rezazi, Marja-Liisa Niemelä, Lars-Inge Runström, Mateusz Kohutek und Ligia Dumitrica. Und Rechtsanwalt Rosenskiöld.
    Auf dem mittleren Bildschirm erschien ein neuer Text:
    Erinnerst du dich, Jorge, worüber wir gesprochen haben, als wir damals in diesem Café gesessen haben? Warum ich aufgehört habe, an meiner Abhandlung zu schreiben? Ich wollte beweisen, dass der Mensch nicht immer und unter allen Umständen sich selbst der Nächste ist. Dass er auch Platz für andere hat. Ernsthaft mit anderen reden kann. Aber es ließ sich nicht schriftlich beweisen. Nicht mit Worten. Es verlangte nach einer anderen Sprache. Erinnerst du dich? Ich fragte: Liegt es an der menschlichen Natur? Wollen wir es uns so einfach machen? Und du, Jorge, sagtest: Die menschliche Natur ist doch besser, als du glaubst. Drück eine Taste, wenn du dich bereit fühlst für die Fortsetzung.
    Chavez nickte. Er erinnerte sich an ihr Gespräch. Und jetzt erinnerte er sich daran, wie ernst es Stickanpickan gewesen war. Er drückte eine Taste.
    Unser Gespräch, Jorge, hat mich wieder an gewisse Dinge glauben lassen. Vielleicht sogar an die menschliche Natur. Sie muss geprüft werden, mit einer anderen Sprache. Wir kommen der menschlichen Natur nicht näher als Isabel Chavez. Noch nicht die geringste Spur von Kultur. Bald wird sich ihre Identität bilden. Aber noch nicht. Noch kannst du entscheiden, welche Art Mensch sie werden soll. Nicht ganz und gar, zum Glück, aber du kannst eine Richtung vorgeben. Ich möchte, dass du das tust, bewusster, als du bisher gedacht hast. Im Übrigen geht es ihr gut, auch wenn sie ein bisschen einsam ist. Willst du sehen? Drück eine Taste.
    Chavez erschauerte und drückte eine Taste. Mit zitterndem Zeigefinger. Der rechte Bildschirm flackerte auf, und ein Bild erschien. Ein Hotelzimmer. Ein kleines Kinderbett. Ein kleines Kind schlief mit dem Schnuller im Mund. Isabel. Er strich mit den Fingerspitzen über den Bildschirm. Der Text auf dem mittleren Monitor lautete:
    Jetzt ist es Zeit für dich, eine Wahl zu treffen. Der Countdown hat im gleichen Moment begonnen, in dem dieser Text erschienen ist. Du hast eine Minute Zeit. Unten auf dem Schirm siehst du die restlichen Sekunden. Es geht um Folgendes: In jedem dieser beiden Zimmer ist eine Giftampulle
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