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Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren
Autoren: Arne Dahl
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installiert. Beide werden vor Ablauf einer Minute ausgelöst. Aber du, Jorge, kannst eine von ihnen stoppen. Du hast die Wahl. Entweder entscheidest du dich dafür, sechs Menschen zu retten, von denen fünf durch die Hölle gegangen und auf der anderen Seite wieder herausgekommen sind. Ich bin bereit, die Menschen, die ich nicht ohne erhebliche Mühen gerettet habe, zu opfern. Oder du entscheidest dich für einen Menschen, deine Tochter. Sechs oder einer? Ich will nur bestätigt haben, wie es um unsere Menschlichkeit bestellt ist. Du, Jorge, bist der beste Mensch, den ich je getroffen habe, deshalb will ich gerade dich testen. Nur deshalb. Ist es unabänderlich so, dass wir uns selbst am nächsten sind? Diligentia quam in suis. Drück I, wenn du Isabel retten willst, drück U, wenn du die Unschuldigen retten willst. Wenn du das Unerwartete wählst, werde ich in einigen Stunden im Polizeipräsidium erscheinen und mich stellen. Im selben Moment, in dem du drückst, wird die andere Giftampulle ausgelöst. Wenn du nicht innerhalb der bemessenen Zeit drückst, werden also beide Ampullen ausgelöst. Ich warte.
    Jorge Chavez saß vollkommen still. Das kahle Zimmer tanzte von einer eigentümlichen Anwesenheit. Er führte die Finger zur Tastatur, vorsichtig, vorsichtig. Der Zeigefinger und der Mittelfinger legten sich zitternd über die Buchstaben I und U. I für Isabel, U für Unschuldige. Der Countdown war bei 28, 27, 26.
    Wie würde er seiner Tochter in die Augen sehen können, wenn er sechs Personen ermordete? Und wie würde er Sara in die Augen sehen können, wenn er Isabel opferte?
    Wie würde er überhaupt weiterleben können?
    20, 19, 18, 17.
    Der Ausgang war vorgegeben. Er wusste es. Stig wusste es. Er sah sich selbst, und er sah die menschliche Natur. Oder war es die Kultur? Mussten wir so sein? Dass wir uns immer selbst am nächsten waren? Dass wir immer zuerst an uns dachten? Wir gegen sie?
    Diligentia quam in suis. Die gleiche Fürsorge wie in eigenen Angelegenheiten. Ein juristischer Begriff für Fürsorge. Eine absurde Utopie?
    Stickanpickan war auf einen grundlegenden Fehler in der menschlichen Konstitution aus. Er wollte zeigen, dass dieser Fehler nicht angeboren war, dass es möglich war, etwas daran zu ändern. Und Jorge Chavez war dazu ausersehen, es zu ändern. War er würdig?
    14, 13, 12.
    Und war es wahr? Gab es die Giftampullen? Es bestand kein Zweifel daran, dass es möglich war, Stig hatte mit aller wünschenswerten Deutlichkeit gezeigt, dass er dazu in der Lage war. Jorge konnte natürlich kein Risiko eingehen. Er war gezwungen, seine Tochter zu retten.
    Zu einem absurden, unmäßigen Preis.
    8,7,6,5.
    Seine Finger zitterten stark. Er durfte keinen Fehler machen.
    4,3,2.
    Und er drückte.
    Er drückte I.
    Das linke Bild verschwand. Abrupt. Auf dem rechten lag Isabel in dem kleinen Bett und schlief. Sie drehte sich auf die Seite.
    Und ein neuer Text erschien.
    Jaja, Jorge. Es ist also doch so gekommen. Jetzt sehen wir uns nie wieder. Wir können nie mehr miteinander reden. Du hast sechs Menschenleben geopfert für eins. So sehen wir dann wohl aus. Es ist vielleicht unausweichlich. Isabel ist im Vasa Park Hotel am Sankt Eriksplan 1. Zimmer 305. Du bist in drei Minuten da. Ich möchte, dass du die drei Minuten gut nutzt. Tschüs dann. Unsere Rhythmusgruppe hatte einen richtig guten Groove. Denk an King of Pain.
    Und er lief. Wie ein Besessener lief er über den Sankt Eriksplan. Durch den wahnsinnigen Mittsommerregen. In seinem Kopf war kein einziger Gedanke. Jedenfalls kein bewusster Gedanke.
    Aber eine ganze Menge anderes.
    Er stürzte ins Vasa Park Hotel, bekam an der Rezeption mithilfe seines Polizeiausweises einen Schlüssel, stürzte die Treppen hinauf und warf sich förmlich in Zimmer 305.
    Da lag sie. Sie schlief.
    Er nahm Klein Isabel hoch. Presste sie an sich, drückte die Nase in das dunkle Haargewuschel und weinte. Das Unschätzbare in unserem Leben. Das teuer Erkaufte. So steht es also um mein Gutsein, dachte Jorge Chavez.

39
     
    Denk an King of Pain, dachte Jorge Chavez und betrachtete seine Familie. Er hatte sechs Menschen für sie geopfert.
    It’s my destiny to be die king of pain.
    Sie waren zu Hause in der Birkagata. Sara wusste nicht einmal davon, dass Isabel entführt worden war. Er erzählte stoßweise. Als ob niemals alles in einer einzigen Erzählung Platz fände.
    Vor allem wusste kein Mensch außer Stig Nilsson von dem, was fünfzig Meter entfernt in der Birkagata vor sich
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