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Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Titel: Und wenn es die Chance deines Lebens ist
Autoren: Caroline Vermalle
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P R O L O G
    Dunkelheit. Im Hintergrund hört man Ella Fitzgeralds samtige Stimme Someone to Watch over Me singen. In der Luft ein schwacher Duft von Gewürzen und Schokolade.
    OSCAR:
    Hallo, Engel. Du bist noch immer da?
    ENGEL:
    Ja, Oscar.
    OSCAR:
    Gut. (Pause.) Riechst du das? Die Frau von oben hat sich eine heiße Schokolade gemacht. Ich weiß nicht, was sie da hineingetan hat, aber es riecht wirklich gut ...
    ENGEL:
    Zimt.
    OSCAR:
    Ja, stimmt, Zimt. Nun gut. (Ein Seufzer.) Ist es noch nicht so weit?
    ENGEL:
    Nein, Oscar. Erst morgen.
    OSCAR:
    Morgen ... gut, morgen also. Ich nehme an, was den genauen Zeitpunkt angeht, versteht der Chef keinen Spaß. Zu früh ist zu früh, und zu spät ist zu spät. Und morgen hat dann meine Stunde geschlagen, ja?
    ENGEL:
    Genau.
    OSCAR:
    Gut. (Ein Seufzer. Ein Löffel klirrt gegen eine Trinkschale. Der Duft der heißen Schokolade wird intensiver.) Weißt du, da wir gerade darüber sprechen, möchte ich dir etwas sagen, Engel. Es ist nicht etwa so, dass ich etwas dagegen hätte zu gehen, weißt du. Und ich bin auch keiner von denen, die herumnörgeln. Aber trotzdem habe ich das Gefühl, dass es ein wenig zu früh ist, wenn ich morgen gehen soll.
    ENGEL:
    Wie oft habe ich das schon gehört, mein kleiner Oscar. Es ist immer entweder zu früh oder zu spät. Nur die Weisen verstehen, dass der gewählte Augenblick genau der richtige ist. So ist das Leben.
    OSCAR:
    Die Weisen, die Weisen. Ich bekomme Komplexe, wenn du so sprichst. Weißt du, morgen ist Weihnachten. Ichdachte mir, es könnte vielleicht eine ... eine ... wie heißt es noch gleich ... eine Gnadenfrist geben.
    ENGEL:
    Nein.
    OSCAR:
    Du musst zugeben, Spaß versteht ihr nicht. (Pause.) Na gut. (Pause.) Ich weiß, du hast es mir bereits gesagt. Erkläre es mir trotzdem noch einmal, damit ich es auch wirklich richtig verstehe: Sobald ich dort bin, habe ich alles vergessen? Keine Erinnerungen mehr, an gar nichts?
    ENGEL:
    Dort, wo du hingehst, brauchst du nichts von dem, was du heute hast. Morgen werden deine Erinnerungen vollkommen ausgelöscht sein. Warum solltest du dich erinnern wollen?
    OSCAR:
    Weil ... es gibt Erinnerungen ... an denen man hängt, du weißt doch, wie das ist. Es gibt da vor allem eine Geschichte ... eine Geschichte, an die ich gerne denke, einfach so, weil sie mir jedes Mal ... Jedenfalls liegt sie mir sehr am Herzen. (Er hängt einen Augenblick seinen Gedanken nach und lächelt traurig.) Außer mir kennt niemand die ganze Geschichte. Für immer verloren ... (Pause.) Das ist verrückt, nicht wahr? Von allem, was ich habe ... Sicher, es ist nicht viel, wenn ich es recht bedenke, doch ich sage dir, wenn ich irgendetwas dorthin mitnehmen könnte ...
    ENGEL:
    Man nimmt nichts mit.
    OSCAR:
    Ich weiß, ich weiß, aber ich sage es dennoch. Wenn ich eine einzige Sache mitnehmen könnte ... nun, dann wäre das die Erinnerung an diese Geschichte ... (Ein tiefer Seufzer.) Wenn es aber so bestimmt ist, kann man nichts machen.
    ENGEL:
    Es ist so bestimmt.
    Ella Fitzgerald verstummt. Die Nacht ist hereingebrochen, und der Duft der heißen Schokolade ist verflogen. Oscar ist in melancholisches Schweigen versunken.
    ENGEL:
    Oscar?
    OSCAR:
    Hm?
    ENGEL:
    Wir haben noch Zeit, bevor der morgige Tag anbricht. Möchtest du mir deine Geschichte erzählen?
    OSCAR:
    Ich bin kein guter Erzähler.
    ENGEL:
    Doch, bestimmt.
    OSCAR:
    Hm, wenn du darauf bestehst. Also, pass auf. Hm. (Er räuspert sich.) Ich muss sie mir zuerst wieder genau ins Gedächtnis rufen. Ich weiß nicht, ob ich mich an alles erinnern kann.
    ENGEL:
    Mir würde auch eine Zusammenfassung genügen.
    OSCAR (empört) :
    Eine Zusammenfassung! Eine Zusammenfassung, sagt er zu mir! Das hieße doch, Perlen vor die Säue zu werfen! Diese Geschichte muss man richtig auskosten . Und wenn du mich ständig unterbrichst ...
    ENGEL:
    Tut mir leid. Ich höre dir jetzt zu (mit einem Schmunzeln in der Stimme) . Auch wenn mir nicht entgangen ist, dass du mich ein Schwein genannt hast.
    OSCAR:
    Ja, ja, wegen dir verliere ich ständig den Faden. Das ist gemein. (Er räuspert sich erneut.) Auf die Ufer der Seine in Paris fiel der Schnee ...

Auf die Ufer der Seine in Paris fiel der Schnee, und zwei junge Frauen schauten zu, wie die Flocken durch die Luft wirbelten. Die kalte Fensterscheibe in der obersten Etage eines Stadtpalais auf der Île Saint-Louis war an zwei Fleckchen beschlagen. An dem einen zeichnete sich der Kussmund der 25-jährigen Pétronille ab. Ihre hübschen
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