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Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Titel: Und wenn es die Chance deines Lebens ist
Autoren: Caroline Vermalle
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kastanienbraunen Locken fielen ihr bis auf die Schultern, und sie zupfte an ihrer Strickjacke herum, unter der sich ihre Kurven abzeichneten. Die andere beschlagene kleine Stelle zitterte jedes Mal, wenn ihre ältere Schwester Dorothée seufzte. Sie war 31 Jahre alt, blond und schlank, und ihre strahlenden blauen Augen spiegelten Entschlossenheit wider. Dorothée zupfte normalerweise nicht an ihren Strickjacken herum. Das hatte sie sich erst vor sechs Monaten angewöhnt, als sie schwanger und ihr Bauch immer dicker wurde.
    »Es gibt Leute, die haben einfach Glück im Leben«, sagte Dorothée seufzend. »Sieh nur diese Aussicht hier ...«
    Notre-Dame, das Panthéon, der Tour Montparnasse, der Eiffelturm – dieses weltberühmte Bild von Paris wie die Ansicht auf den Postkarten, die an den Ufern der Seine verkauft wurden. Pétronille seufzte ebenfalls. Wenn sie den Eiffelturm erblickte, lief ihr immer ein Schauder überden Rücken. Nein, kein richtiger Schauder, sondern vielmehr der Hauch eines winzigen Flügelschlages, wenn ein Vogel sich in die Lüfte emporschwingt. Gleichzeitig blitzte die Erinnerung an einen flüchtigen Augenblick auf: das Glück der kleinen Dinge. Wenn Pétronille sie in eine Flasche hätte füllen können, hätte sie sie gesammelt. Sie hätte sie daheim in ihrer kleinen Wohnung aufbewahrt, dort unten in einer der tausend dunklen Straßen, die die Hauptstadt durchzogen, dort, von wo man nur in die Fenster anderer Wohnungen sah. Hier in dieser großen Wohnung inmitten der grauen Dächer, die der Schnee allmählich weiß färbte, war das anders. Von hier aus konnte man beobachten, wie das Herz von Paris schlug, wenn man sich die Zeit nahm, genau hinzuschauen. Leider war sie hier in einer fremden Wohnung.
    »So«, sagte Pétronille, »wir müssen gehen. Wenn er nach Hause kommt und uns hier sieht, gibt es richtig Ärger.«
    Pétronille sammelte die Verpackungsreste ein, die auf dem alten Parkettboden herumlagen, und stopfte sie in einen großen schwarzen Müllbeutel. Sie bewunderte noch einmal, was sie gerade ausgepackt hatte: ein kleines, nur knapp 30 Zentimeter hohes Gemälde. Ein stilles winterliches Dorf, ein paar kahle Bäume, Gestalten, die die Kälte zur Eile antrieb, und links unten, fast ein wenig verschämt, die zur Seite geneigte Signatur des Künstlers: Alfred Sisley.
    »Du hast doch gesagt, dass er immer bis tief in die Nacht im Büro bleibt«, widersprach Dorothée, die noch immer ihre Nase am Fenster platt drückte.
    »Ja, aber was, wenn er ausgerechnet heute beschlossen hätte, früher nach Hause zu gehen? Komm.« Pétronillestellte den Müllbeutel neben die Konsole nahe der Eingangstür, auf der sich wichtig aussehende Post stapelte.
    Dorothée schlenderte durch die Wohnung und betrachtete die erlesene Einrichtung.
    »Es ist trotzdem nicht gerecht. Dieser Typ hat einfach alles. Er ist reich und ein hervorragender Anwalt; er besitzt eine traumhafte Wohnung, guten Geschmack ... Ist das nicht zu viel Glück für einen einzigen Menschen?«
    Pétronille sagte kein Wort, doch es erfüllte sie mit Stolz, dass ihre Schwester das Gemälde des Impressionisten bewunderte, das an der Wand lehnte. Dann wanderte Dorothées Blick zu den Fotos in den silbernen Rahmen auf dem marmornen Kaminsims. Sie zeigten Leute aus der feinen Gesellschaft und viele VIPs: ein Fußballstar, ein Minister und Dany Simonet, derzeit eine der beliebtesten Schauspielerinnen Frankreichs. Dorothée nahm das Schwarz-Weiß-Porträt des Mannes in die Hand, der auf allen diesen Bildern zu sehen war.
    »Sag bloß, das ist er«, rief sie mit großen Augen aus.
    Pétronille warf einen Blick auf das Foto: Ende 30, markante Gesichtszüge, lockiges braunes Haar, gebräunter Teint und die Miene eines jugendlichen Filmhelden vergangener Zeiten. Ein angedeutetes schüchternes Lächeln und strahlende Augen, dunkel wie Bitterschokolade. Das war er. Rechtsanwalt Frédéric Solis. Pétronilles Chef.
    »Ja, ich weiß, aber deswegen brauchst du trotzdem nicht gleich ...«, wiegelte Pétronille lächelnd ab, als würde sie das gar nicht berühren.
    »Der Typ sieht ja bombig aus!«, platzte Dorothée heraus. »Du und deine Heimlichtuerei! Da fällt mir geradeein: Weißt du, dass in deinem Horoskop für Dezember steht, dass du um den 22. herum jemanden kennenlernen wirst? Es heißt doch, dass sich die tollsten Männer meist in ihre Sekretärinnen verlieben. Ich kann ihn mir jedenfalls gut als Schwager vorstellen.«
    »Auch wenn dir es jetzt das
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