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Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Titel: Und wenn es die Chance deines Lebens ist
Autoren: Caroline Vermalle
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starrte ungläubig auf den Brief. Das war wirklich eine gute Nachricht! Er wurde aufgefordert, sich bei besagtem Notar einzufinden, damit eine Erbschaftsangelegenheit geregelt werden konnte. Eine Erbschaft! Ein paar Minuten lang verharrte Frédéric unbewegt. Dann lächelte er übers ganze Gesicht und atmete tief durch. Dieser überraschende Glücksfall würde bestimmt dazu beitragen, dass er einen Teil seiner Schulden begleichen konnte. Eine Erbschaft! Welch ein Tag! Champagner!
    Erst nach dem zweiten Schluck Champagner wurde ihm bewusst, dass er den Namen des Verstorbenen garnicht kannte. Ein Mann war gestorben und ernannte ihn zu seinem Erben, und Frédéric konnte sich überhaupt nicht an ihn erinnern. Er las den Brief noch einmal durch und suchte den Namen des Verstorbenen: Fabrice Nile.
    Fabrice Nile. Eine ganze Weile dachte er angestrengt nach – FabriceNileFabriceNileFabriceNile – und ging im Kopf die Namen seiner Mandanten und Bekannten durch. Er blickte auch suchend zum Himmel von Paris, an dem mittlerweile die Nacht vollends heraufgezogen war, ohne dass irgendein Gesicht vor seinem inneren Auge auftauchte. Schließlich dachte er an jenen Weihnachtsmorgen zurück, doch auch damals gab es niemanden dieses Namens.
    Frédéric trank noch einen Schluck Champagner. Morgen würde er zu dem Notar gehen und erfahren, um wen es sich handelte. Er würde wohlhabend nach Hause zurückkehren, und sein Steuerberater würde endlich aufhören, ihm ständig zu erklären, dass er am Rande des Ruins stand. Er müsste nicht länger an Menschen aus der Vergangenheit denken, und alles wäre gut.
    Ja, alles wäre gut.
    Währenddessen ging Madame Boule, die alte Concierge des Stadtpalais, hinaus, um die Abfalltonnen zu kontrollieren. Sie gab acht, dass sie auf den schneebedeckten Steinplatten im Garten nicht ausrutschte. Madame Boule fluchte. Diese Sekretärin des Rechtsanwalts war ja eine nette Person, aber sie warf die Müllbeutel einfach nie in die richtige Abfalltonne. Egal wie oft sie sie darauf hinwies, es war zwecklos. »Hab ich’s mir doch gedacht! Derschwarze Müllbeutel beim Altpapier.« Madame Boule warf den Müllbeutel in die richtige Abfalltonne, und als sie in ihre Loge zurückkehrte, zog sie die Strickjacke eng um ihre Brust.
    Am nächsten Tag würde die Müllabfuhr kommen und einen an Frédéric adressierten Brief mitnehmen, der unbemerkt von der Konsole in den schwarzen Müllbeutel gefallen war. Warum gerade dieser Brief und nicht der des Notars? Das Schicksal ist eben mitunter ein Schelm!

»Soll das ein Scherz sein?« Frédéric sah nicht so aus, als wäre er zu Scherzen aufgelegt. Der Notar, ein Hänfling um die fünfzig mit Hornbrille und abgesplitterten Fingernägeln, spürte das.
    »Hören Sie, Monsieur Solis, ich weiß auch nicht, was ich dazu sagen soll. Der Nachlass umfasst nur das, und Sie sind der Alleinerbe. Seien Sie doch froh, dass Sie zumindest keine Erbschaftssteuer darauf zahlen müssen.«
    Mitten in dem mit Akten vollgestopften Büro beugten sich die beiden Männer über eine einfache Pappschachtel. Darin lagen zwei Fahrscheine und zwei Eintrittskarten: ein Fahrschein für eine Zugfahrt und einer für eine Bootstour, eine Eintrittskarte für den Garten in Giverny und eine für das Musée d’Orsay. Sie waren alle für festgesetzte Termine im Dezember ausgestellt. Außerdem gehörte noch eine Plastikröhre dazu, die ein Blatt Zeichenpapier im DIN-A3-Format enthielt. Auf das Blatt waren mit schwarzer Tusche Skizzen und winzige Kritzeleien gezeichnet. Eine rote Linie, die sich zwischen den Zeichnungen hindurchschlängelte und an einem roten Punkt endete, der einem Kreuz ähnelte, stach inmitten der dunklen Farben hervor. Weder der Notar noch Frédéric wollten sichlächerlich machen, und daher schwiegen sie. Hätten sie sich ein kindliches Gemüt bewahrt, hätten sie gerufen: Hurra, eine Schatzkarte!
    Da sie jedoch erwachsene Menschen waren, verfielen sie in Schweigen.
    »Ich muss zugeben, dass ich in meiner gesamten Laufbahn ...«, stammelte der Notar schließlich. »Nun, diese Dokumente sind dennoch interessant.«
    Er fuhr mit dem Finger die rote Linie auf dem Papier entlang, als wollte er eine alte Zeichnung auf ihre Ausführung hin prüfen. War es dieses Blatt, das seine grauen Augen strahlen ließ?
    »Wissen Sie nicht, was für eine Bedeutung das haben könnte?«, fragte er mit scheinbar gleichgültiger Miene. »Man könnte meinen, es handelt sich um ein Rätsel, diese Worte da ...
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