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Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Titel: Und wenn es die Chance deines Lebens ist
Autoren: Caroline Vermalle
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Vielleicht ist es eine Art Rollenspiel.«
    Frédéric zog das Testament mit zusammengebissenen Zähnen unter der Schachtel hervor und las es aufmerksam durch.
    »Fabrice Nile war ein Freund der Familie, sagten Sie?«, fragte der Notar ihn.
    »Ich habe nichts dergleichen gesagt«, erwiderte Frédéric schroff. »Sind wir fertig?«
    »Ja, die Formulare sind ausgefüllt, und alles ist unterschrieben.« Der Notar starrte noch immer wie gebannt auf die geheimnisvollen verschnörkelten Zeichen. »Jetzt sind Sie Besitzer eines schönen ... nun, sagen wir, Dokuments. Und je zweier Fahrscheine und Eintrittskarten. Damit wäre alles geregelt.«
    Frédéric musste unter den Ellbogen des Notars hindurchgreifen, um ihm das Blatt zu entziehen. Denn dieser versuchte noch immer, es zu entziffern, als wollte er sich sämtliche Details einprägen. Frédéric steckte es wieder in die Rolle und verschloss die Schachtel mit dem Deckel. Er hatte bereits seinen Kaschmirmantel ergriffen und wollte nun gehen. Die beiden Männer schüttelten einander die Hand und wechselten schnell die obligatorischen Höflichkeitsfloskeln. Die Hand schon auf der Türklinke, hielt Frédéric kurz inne und wandte sich noch einmal um. »Monsieur Nile und ich standen uns zum Zeitpunkt seines Todes nicht mehr so nahe, und ich wurde daher nicht über seine Beerdigung informiert. Würden Sie mir sagen, wo er beigesetzt wurde?«, fragte er, als ob es ihn Überwindung kostete.
    Der Notar schlug die Akte auf, die oben auf dem Stapel neben ihm lag, und teilte ihm mit, dass der Verstorbene in Nantes beerdigt worden sei. »Oh, es tut mir leid für Ihren ... Ihren Freund«, fügte er seufzend hinzu, fast als spräche er mit sich selbst. »Wenn man bedenkt, wie ein Mensch enden kann. Angesichts all unseren Besitzes glauben wir, das Elend liege für uns in weiter Ferne. Letztendlich ist es aber viel näher, als man glaubt, und mitunter genügt schon eine Kleinigkeit ...«
    »Worauf wollen Sie hinaus?«, unterbrach Frédéric ihn.
    »Wann haben Sie Monsieur Nile zum letzten Mal gesehen?«, fragte der Notar argwöhnisch.
    »Vor langer Zeit.«
    »Wussten Sie, dass er seit vielen Jahren obdachlos war?«
    »Ich ... Nein, das wusste ich nicht«, antwortete Frédéric in nüchternem Ton.
    »Wir hatten Einsicht in seine Sozialamtakte. Eigentlich ist das streng vertraulich, aber da Sie zur Familie gehören ...«
    »Ich ...«, begann Frédéric, doch dann biss er sich auf die Zunge und schwieg.
    Der Notar starrte ihn an und fuhr fort. »Monsieur Fabrice François Marius Nile, geboren am 24. Juni 1965 in Montigny-lès-Metz, von Beruf selbstständiger Kraftfahrzeugmechaniker, verstorben am 8. November 2012 im Krankenhaus Saint-Nicolas in Pontoise infolge einer Lungenentzündung. Am 7. Juli 1987 hat er Corinne Billot geheiratet, die am 12. Februar 1996 verstarb. Fabrice Nile hatte keine Kinder, keine Geschwister, und seine Eltern sind verstorben ... Seit 1997 war er arbeitslos gemeldet, und seit 1998 hatte er keinen festen Wohnsitz mehr. Aufgrund gesundheitlicher Probleme, die mit seiner Alkoholsucht zusammenhingen, lag er mehrmals im Krankenhaus Saint-Nicolas in Pontoise ...«
    »Ich danke Ihnen, Monsieur, und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«
    Unabsichtlich schlug Frédéric die Tür hinter sich zu, das heißt, er hatte zumindest nicht vorgehabt, sie so laut zuzuschlagen.

Eine halbe Stunde später spazierte Frédéric mit der Schachtel unter dem Arm durch den verschneiten Jardin de Bagatelle. Er war mit John Witherspoon, einem Mandanten, zum Essen verabredet und hatte noch ein wenig Zeit.
    Der Jardin de Bagatelle gehörte zu den schönsten Parks von Paris. Versteckt in einem ruhigen Winkel im Bois de Boulogne zwischen den schicken Avenues des 16. Arrondissements und den hochherrschaftlichen Stadthäusern von Neuilly, zogen diese Wege nur selten Touristen und nie die großen Massen an. Prächtige Rosensträucher, Pfauen und eine Orangerie, aus der leise Klänge klassischer Musik drangen – ein Geheimtipp vornehmer und empfindsamer Flaneure. Im Sommer war Frédéric mit Marcia oft am Morgen zu diesem Park gefahren. Marcia sah zu jeder Jahreszeit hübsch aus, doch im Sommer im Jardin de Bagatelle war sie einfach bildschön. Marcia ... Weder diese schmerzliche Erinnerung noch das bevorstehende Treffen mit John, auf das er sich unbedingt konzentrieren musste, konnten Frédéric von der Schachtel und von Fabrice Nile ablenken.
    In einer abgelegenen Ecke des Rosengartens setzte
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