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Das Geheimnis der Apothekerin

Das Geheimnis der Apothekerin

Titel: Das Geheimnis der Apothekerin
Autoren: Julie Klassen
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Prolog

    Ich erinnere mich noch bis in jede Einzelheit daran, obwohl es schon viele Jahre her ist. Ich vergesse nämlich nie etwas.
    Es war im Jahr 1810. Damals war ich fünfzehn. Ich stand auf der elegant geschwungenen Honeystreet Bridge, wie so oft, wenn ich gerade nicht im Geschäft meines Vaters gebraucht wurde, und beobachtete die bunten Boote, die vorüberfuhren – dort ein leuchtend blauer Frachtkahn, hier ein blauweißes Kanalboot. Genau genommen spähte ich nach etwas aus. Ich bemühte mich angestrengt, einen Blick auf das Gesicht jedes einzelnen Menschen auf jedem einzelnen Boot, das den erst kürzlich fertiggestellten K- und A-Kanal befuhr, zu erhaschen. Gelegentlich sah man auf einem solchen Boot auch Frauen, aber nur sehr selten. In der Regel arbeiteten nur Männer als Lotsen, Steuermänner oder Kaufleute auf dem Kanal, aber hin und wieder lebte auch eine ganze Familie auf einem Schiff, denn die Frauen und Kinder waren billigere Arbeitskräfte als eine reguläre Mannschaft.
    Vor zwei Monaten hatte meine Mutter eines dieser Kanalboote bestiegen und war seither verschwunden – so tuschelten jedenfalls die Dorfbewohner, wenn sie glaubten, dass ich sie nicht hören konnte. Damals hoffte ich noch, dass sie zurückkommen würde, wie sie verschwand, und uns sagte, dass ihr Verschwinden nur ein Streich gewesen sei, ein Abenteuer, ein Versehen – was auch immer. Wie viele Stunden hatte ich hier schon gestanden? Wie viele Boote hatte ich unter der Brücke hindurchfahren sehen, Boote mit Namen wie Britannia , Strahlender Stern oder Standhaftigkeit ? Beim Anblick eines jeden fragte ich mich, woher es wohl kam und wohin es fahren mochte. Welche Fracht führte es mit sich? Gewürze von den Westindischen Inseln vielleicht oder Tee aus China? Kohle aus den Midlands oder Holz aus Norwegen? Wie oft träumte ich davon, mein Bündel zu schnüren, Bedsley Priors Lebewohl zu sagen und in die unbekannte, lockende Ferne aufzubrechen!
    Das gelbweiße Kanalboot, das sich an jenem Tag näherte, beobachtete ich jedoch aus einem völlig anderen Grund. Als es angelegt hatte, stieg unbeholfen ein schlaksiger Junge mit einem Seesack über der Schulter aus. Mein Vater, der am Ufer stand, streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen und genau in diesem Augenblick beugte sich der Junge vornüber und übergab sich.
    Ich stöhnte. Das war kein guter Beginn. Vaters Schuhe waren höchstwahrscheinlich verdorben.
    Dann seufzte ich tief auf. Ich wusste genau, dass ich jetzt eigentlich zu den beiden hätte hinuntergehen sollen. Vater hatte mich offenbar noch nicht gesehen, sonst hätte er mich längst gerufen, wie sonst auch. Jetzt, als Mutter fort und außer mir nur noch mein Bruder da war, dessen Geistesgaben nicht sehr weit reichten, hatte ich im Haushalt und auch im Geschäft viele Pflichten übernehmen müssen.
    Nein, ich würde jetzt nicht hinuntergehen. Ich wollte lieber abwarten und den jungen Mr Baylor später begrüßen, wenn er sich wieder ein bisschen gefangen hatte. Dann konnte ich ihm Ingwertee kochen und einen alten Lappen für Vaters Schuhe heraussuchen. Eigentlich wollte ich aber nur noch ein bisschen auf der Brücke stehen bleiben.
    Einige Minuten später näherte sich von Westen her ein blaurotes Kanalboot. Vielleicht kam es aus Bristol und war auf dem Weg zur Themse, auf der es dann weiter nach London fahren würde, das etwa hundertzwanzig Kilometer östlich lag. Ein Mann ging den Treidelpfad entlang und führte ein Pferd, das ein Boot zog. Auf dem Vorderdeck saß eine einzelne Person. Ganz hinten, hinter der Kabine, waren zwei Matrosen auf dem Achterdeck beschäftigt.
    Als das Boot näher kam, sah ich, dass die Gestalt auf dem Vorderdeck eine Frau war. Sie hielt den Kopf gesenkt, wie ins Gebet versunken. Vielleicht las sie auch. Eine große Haube verbarg ihr Gesicht vor der Sonne – und vor mir. Mein Herz machte einen Sprung. Irgendetwas an der Haltung der Frau und der Neigung ihres Kopfes kam mir vertraut vor. Mutter hat immer so gern gelesen .
    Ich beugte mich weit über das breite Brückengeländer. Mein Herz klopfte wie rasend. Das Boot kam langsam näher. Ich sah, dass der Mann, der das Pferd führte, braun gebrannt und breitschultrig war. Hatte meine Mutter uns für diesen Mann verlassen? Auf dem schmalen Uferstreifen unter der Brücke entschwand er kurzfristig meinem Blick. Dann tauchte der Schiffsbug in den Schatten des Brückenbogens ein. In diesem Augenblick blickte einer der beiden Männer auf dem Schiff zu
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