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Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Titel: Und wenn es die Chance deines Lebens ist
Autoren: Caroline Vermalle
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Großvater fort und klopfte ihm auf die Schulter. »Das ist wirklich ein schönes Auto, das du da bekommen hast.« Der alte Mann fuhr sich wieder mit den Händen über seine Oberschenkel.
    Frédéric spürte, wie Tränen seinen Körper erfüllten, aber seltsamerweise nicht die Augen. Er rollte sein Auto ein paar Zentimeter unter dem Christbaum über den Boden, doch das Auto wollte nirgendwohin. Der Junge, der seinem Opa gerne eine oder zwei oder auch tausend Fragen gestellt hätte, spürte, dass der keine Fragen mehr beantworten wollte. Frédéric nahm sich vor, all diese Fragen später seiner Mutter zu stellen.

32 Jahre später spürte dieser Junge, der neben seinem Sisley auf dem Boden hockte und auf die Lichtreflexe schaute, die die Touristenboote auf der Seine an die Decke seiner großen Pariser Wohnung warfen, wie jene Fragen, die er niemals gestellt hatte, immer noch gegenwärtig waren. Er hat es zu etwas gebracht, der Sohn des Mannes, der Kalender entwarf, dachte Frédéric, immer noch in seinem Kaschmirmantel. Und als er es zu etwas gebracht hatte, wurde ein anderer Mensch aus ihm. Größer. Wie das Jesulein war er zu groß für seine Familie und ihr Schweigen geworden. Also verließ er sie alle, sobald sich die Möglichkeit bot. Dennoch hatte er seine Mutter geliebt. Natürlich ohne es ihr jemals zu sagen. Sogar auf ihrer Beerdigung sprach er diese Worte nicht aus. Als sie starb, war er 21 Jahre alt und somit reif genug, um es zu sagen. Sie hätte wissen sollen, dass er sie bewunderte, weil sie so viel für ihn getan hatte, nicht wahr? Sie hatte ihn ganz alleine großgezogen, nie mehr geheiratet und ihn all die Jahre vor den traurigen Dezembermonaten beschützt. In ihrer Familie war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass man jedes Wort auf die Goldwaage legte. Anstatt zu sprechen, hatte er härter für die Schule und später fürs Studium gearbeitet als alle anderen, jeden Tag und jede Nacht. Er würde es weiterhin tun aus Liebe zu den Gemälden der großen Meister und weil ihm seine Karriere wichtig war. Frédéric hatte sich geschworen, niemals Kinder zu haben. Es war besser, der Nachwelt Scheidungen berühmter Leute zu hinterlassen als Weihnachtsgeschenke mit bitterem Nachgeschmack.
    Mit steifen Gliedern stand er auf und knipste das Licht an. Warum trübten gerade heute Abend so traurige und wirre Gedanken sein Glück? Er wedelte mit der Hand durch die Luft, als wollte er Fliegen verscheuchen. Frédéric betrachtete die beiden anderen Schätze seiner Sammlung, und ihr Anblick beruhigte ihn. An einer Wand des Salons hing eine etwa zehn Zentimeter große quadratische Skizze des Impressionisten Camille Pissarro: ein mit Bleistift und Tusche auf Karton gezeichnetes Feld im Winter mit zwei Bauern. Die Spuren ihres Alltags, ihrer Füße und ihrer Mühsal im Schnee. Und im Eingangsbereich über der Konsole das Triptychon von Utagawa Hiroshige: drei Frauen im dichten Schneegestöber. Ihre Schritte im Schnee, flüchtige Spuren eines kleinen Spaziergangs. Hiroshige war kein Impressionist, aber dieses Bild hatte Claude Monet, der dessen Holzschnitte sammelte, inspiriert. Eines Tages würde Frédéric über das nötige Geld verfügen, um einen Monet, einen Caillebotte, einen Gauguin, einen größeren Sisley oder ein Gemälde von Pissarro zu erwerben. Die Freuden eines Sammlers, alle Schätze der Welt in Reichweite, was für eine herrliche Erfindung der Menschen! Während die meisten sich mit Kleinigkeiten begnügten, leistete Frédéric Solis sich den Luxus großerMeisterwerke. Er war bereit, die schmerzlichen Opfer zu bringen, die diese Begeisterung für impressionistische Winterlandschaften verlangte.
    Schließlich zog Frédéric den Mantel aus und hängte ihn in den Garderobenschrank neben der Tür. Die Briefe lagen auf der Konsole, als wollten sie seine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Er zögerte, denn er wusste, was es für Briefe waren. Mahnungen. Die Opfer, die er für seine Gemälde bringen musste, waren noch nicht groß genug. Auf der Wohnung lastete eine Hypothek, seine Konten waren überzogen, und er hatte begonnen, seine Antiquitäten zu verkaufen. Die Gläubiger mussten warten. Er war der Rechtsanwalt Frédéric Solis, und das Geld würde schon wieder fließen. Seufzend nahm er ein Einschreiben zur Hand. Diese Forderung musste er sicherlich begleichen.
    Frédéric öffnete den Umschlag und las den Brief durch. Links oben stand das Firmenlogo einer Notariatskanzlei. Frédéric schüttelte den Kopf und
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