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Alle Familien sind verkorkst

Alle Familien sind verkorkst

Titel: Alle Familien sind verkorkst
Autoren: Douglas Coupland
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    Janet öffnete die Augen - Floridas prähistorisch gleißendes Licht blendete von draußen ins Motelfenster. Ein Hund bellte; ein Auto hupte; ein Mann sang einen Fetzen eines spanischen Liedes. Geistesabwesend berührte sie die Narbe, die die Kugel unter ihrem linken Rippenbogen hinterlassen hatte, eine Narbe, die knotig, unförmig und hart war wie ein Kaugummi, der unter einer Tischplatte klebt. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr Fleisch so nichtssagend verheilen würde - Was habe ich erwartet, eine Narbe in Form der amerikanischen Flagge?
    Janets Stirn lief rot an: Meine Kinder - wo sind sie? Im Blitztempo ging sie die Aufenthaltsorte ihrer drei Kinder durch, ein Ritual, das sie seit Wades Geburt 1958 täglich vollzog. Erst als sie ihre Sprösslinge im Geiste geographisch einsortiert hatte, besann sie sich wieder aufs Atmen: Sie werden heute alle hier in Orlando sein.
    Sie schaute auf den Wecker neben dem Motelbett: 7:03. Pillenzeit. Sie nahm zwei Kapseln aus ihrer Pillendose und schluckte sie mit über Nacht schal gewordenem Leitungswasser, das nun nach Nickeln und Pennies schmeckte. Ihr fiel auf, dass Motelzimmer mittlerweile mit Kaffeemaschinen ausgestattet waren. Was für eine vernünftige Idee, verdammt vernünftig sogar - warum ist ihnen das nicht schon vor Jahren eingefallen? Warum passiert alles Gute erst jetzt?
    Vor ein paar Tagen hatte ihre Tochter Sarah am Telefon gesagt: »Mom, kauf dir wenigstens Evian, ja? Das Leitungswasser in dieser Bruchbude ist vermutlich mit Crack versetzt. Ich fass es nicht, dass du freiwillig dort wohnst.«
    »Aber Schatz, es macht mir wirklich nichts aus.«
    »Zieh doch ins Peabody zum Rest der Familie. Ich hab dir schon hundertmal gesagt, dass ich das bezahle.«
    »Darum geht es nicht, Liebes. Ein Hotel sollte wirklich nicht mehr kosten als dieses hier.«
    »Mom, die NASA hat Verträge mit den Hotels, und ...« Mit einem Schnauben gab Sarah sich geschlagen. »Vergiss es. Aber ich finde, du bist zu reich für diese Dritte-Welt-Masche.«
    Sarah - wie lässig sie mit Geld umgeht!! - genau wie die beiden anderen. Keiner von ihnen hatte je Armut kennen gelernt oder einen Krieg miterlebt, aber trotz dieses Privilegs waren sie keine Goldkinder geworden, und das konnte Janet nie verwinden. Ein Leben im Überfluss hatte ihre beiden Jungen in ein anderes Metall verwandelt - Blei? - Silizium? Wismut? Doch dann kam Sarah - sie war aus einem edleren Element als Gold - zu Diamanten kristallisierter Kohlenstoff - ein Blitz, mitten im Niederzucken erstarrt, in Streifen geschnitten und in einer Gruft gelagert.
    Janets Telefon klingelte, und sie nahm ab: Wade, der aus einer Haftanstalt in Orange County anrief. Sie malte sich aus, wie er in einem tristen Betonflur stand, unrasiert und zerzaust, jedoch immer noch mit dieser besonderen Ausstrahlung - dem Funkeln in den Augen, das er von seinem Vater geerbt hatte. Bryan besaß es nicht, und Sarah brauchte es nicht, aber Wade hatte sich durchs Leben gefunkelt, und vielleicht war das doch nicht das beste Attribut, das man erben konnte.
    Wade: Janet musste daran denken, wie sie zu Hause morgens den Marine Drive entlangfuhr und immer denselben Typ Mann beobachtete, der auf den Bus in die Innenstadt wartete. Er sah etwas abgerissen aus und ein wenig unsolide, es war stets offensichtlich, dass er seinen Führerschein wegen Alkohols am Steuer verloren hatte, aber das machte ihn nur noch interessanter, und wann immer Janet einem dieser Männer von ihrem Auto aus zulächelte, feuerte er prompt ein Lächeln zurück. So ein Mann war Wade und, in irgendeiner Schmuddelecke ihrer Erinnerung, auch ihr Ex-Mann Ted.
    »Schätzchen, bist du nicht zu alt, um mich aus dem Knast anzurufen? Das Wort ›Knast ‹ überhaupt in den Mund zu nehmen kommt mir schon albern vor.«
    »Mom, ich tu nichts Ungesetzliches mehr. Diesmal war's Pech.«
    »Also gut, was ist passiert - hast du aus Versehen einen Bus voller Pfadfinderinnen in die Everglades gesetzt?«
    »Es war eine Kneipenschlägerei, Mom.«
    Janet wiederholte: »Eine Kneipenschlägerei.«
    »Ich weiß, ich weiß - glaubst du, mir ist nicht klar, wie idiotisch das klingt? Ich rufe an, weil mich jemand aus diesem Loch hier abholen muss. Mein Mietwagen steht noch bei der Bar.«
    »Wo ist Beth? Wieso fährt sie dich nicht?«
    »Sie kommt erst am frühen Nachmittag nach Hause.«
    »Okay. Jetzt noch mal von vorn, Schatz. Wie genau gerät man in eine Kneipenschlägerei?«
    »Das glaubst du mir sowieso
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