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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel
Autoren: Nick Cave
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größten Teil des Zuckeranbaulandes und die überwältigende Mehrheit der Geschäfts- und Wohngebäude in ihrem Besitz hatten. Natürlich war dies der Hauptgrund dafür, daß man die kleine Sektenkolonie in dem Tal wirken (und praktisch herrschen) ließ; doch war diese Vorherrschaft nicht ungefährdet, und die Ukuliten hatten im fortwährenden Kampf um ihre beneidenswerte, aber nicht unangreifbare Position manches Ungemach erdulden müssen.
     
    Seit Jonas Ukulore in den letzten Tagen des Winters 1862 seine kleine Anhängerschar in das damals noch unbebaute und so gut wie unbewohnte Tal geführt hat, kämpfen die Ukuliten für ihren Glauben mit standhaftem Verteidigungswillen und kompromißloser Härte. Dies unerschütterliche Festhalten an einer strengen Lehre, die ihr Prophet 1861 in einem Testament schriftlich niederlegte, hat im Verein mit den aggressiven Geschäftsmethoden des Joseph Ukulore, Jonas’ Bruder, die Langlebigkeit der Ukulitenkolonie sichergestellt. War Jonas der Prophet, sorgte Joseph für den Profit.
    1859 hatte Jonas Ukulore, aus Wales gebürtiger Konvertit zum baptistischen Glauben, seine ersten Offenbarungen. Zu gegebener Zeit gab er der baptistischen Obrigkeit seine Offenbarung bekannt, er sei der im Buche Daniel prophezeite »Siebente Engel«, und die Vorsehung erblicke in ihm einen mächtigen Mann, ja, einen Propheten in Israel.
    Als seine Offenbarungen sich nicht mehr mit der orthodoxen Lehre vereinbaren ließen, wurden Jonas und einige seiner Anhänger im Jahr darauf von der Kirchenobrigkeit exkommuniziert.
    Zweimal entging er nur knapp dem Tod, als aufgebrachte Orthodoxe ihn lynchen wollten, und angesichts der zunehmenden Feindseligkeit, sowohl gegen die Baptisten insgesamt als auch gegen andere Sekten, ergriffen Jonas und seine Anhänger vor weiteren Schwierigkeiten die Flucht und begaben sich auf die Suche nach einem passenden Stück Erde, wo sie ihre »Neue Gemeinde« etablieren konnten. Nachdem sie in einem »Zustand göttlichen Schwebens« das abgeschiedene Tal entdeckt hatten, legten sie ihren ganzen Besitz zusammen und ließen sich dort nieder.
    Der Prophet verbrachte die meiste Zeit in einsamem Gebet, um sich auf »die zweite Ankunft« vorzubereiten, die ihm bei einer seiner etwa dreitausend Offenbarungen, über die er gewissenhaft Buch führte, verkündet worden war. Unterdessen kümmerte sich sein Bruder Joseph, ehemaliger Landwirt und Geschäftsmann, um die finanziellen Interessen des Tals und legte Zuckerrohrpflanzungen an.
    Der Zucker gedieh prächtig in dem feuchten Tal; bald konnten die Ernteüberschüsse mit kräftigem Profit an die Zuckerfabrik von Davenport verkauft werden.
    Das Tal blühte auf.
    Der Zucker wuchs ebenso wie die Profite. Die Entwicklung des Tales schien tatsächlich unter Gottes großzügiger Lenkung zu stehen, und der künftige Wohlstand der Kolonie schien gesichert.
    In weißem Gewand und goldener Krone und mit einem vergoldeten Szepter in der Hand verkündete der Prophet Anfang August 1862 seinen Schülern, »die Stunde sei nah« – die Zweite Ankunft stehe bevor, und jedermann müsse sich für den baldigen Kreuzzug des Tals bereitmachen.
    Als eine Woche später etwa fünfzig Männer und Frauen unter Hosiannarufen und Lobgesängen hinter ihrem weißgewandeten Führer hermarschierten, wurde Jonas Ukulore von einem unbekannten Heckenschützen erschossen – die Kugel traf ihn am Kopf und tötete ihn auf der Stelle. Der Attentäter wurde nie gefaßt, doch wurde selbstverständlich angenommen, daß er von außerhalb gekommen war. Die Ukuliten sahen darin einen weiteren Beweis für die Niedertracht der Ungläubigen außerhalb des Tals, gaben ihren Kreuzzug auf und blieben zu Hause; und da dieser Kurs ihnen reichen Lohn erbrachte, gelangten sie im Lauf der Zeit dazu, in jener Tragödie eine dramatische Rechtfertigung ihres Glaubens zu erblicken.
    Unter Leitung des immer einfallsreichen Joseph Ukulore florierte das Tal auch weiterhin. Schließlich bauten die Bewohner eine Schienenstrecke nach Davenport und warben nach und nach »Außenstehende« für die Arbeit auf den Zuckerrohrfeldern an.
    Im Jahre 1904 übernahm Joseph die gewaltige Aufgabe, den Bau der Zuckerraffinerie zu organisieren, wobei er sich voll der Tatsache bewußt war, daß er als Dreiundachtzigjähriger weder ihre Fertigstellung erleben noch etwas von den ungeheuren Gewinnen haben würde, die sein Fleiß unfehlbar einbringen mußte. Es waren eben erst die Fundamente der Raffinerie gelegt,
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