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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel
Autoren: Nick Cave
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vor meinen Augen auf, bis sie endlich, des Lebens beraubt und vollkommen mausetot, ihr Dasein beschlossen.
    Und da ging mir auf, warum mein seliger Bruder einen so gezähmten Eindruck machte. Es war kein Leben mehr in ihm. Nur noch Tod.
     
    Schließlich wurde es wieder Tag. Die Sonne brach hervor, brüllte buttergelbes Licht über den Osthang und weckte mit ihrem goldenen Lärm das ganze Tal.
    Am Himmel krächzten kichernd zwei Krähen. In den Hügeln heulte ein wilder Hund. Ich hörte hungrige Küken tschilpen. In der Nähe schrie verzweifelt ein Maultier. Ich hörte das idiotische Gezwitscher einer Lerche. Ernst summten Bienen.
    Die ganze Welt um mich herum schien Aufmerksamkeit zu heischen.
    Aus dem Bauch des Tals läuteten Glocken. Eine Rohrkröte quakte. Eine Fliege brummte. Ein Auto jagte mit lautem Hupen über die Maine Road.
    Die ganze Welt um mich herum verlangte nach Beachtung. Es war Zeit, sich um all die Jungvögel und Küchlein zu kümmern, all die Welpen und Kätzchen, Lämmer, Ferkel und Babys.
    Auch ich hatte es bitter nötig, daß jemand sich um mich kümmerte. Und wie. Ich brauchte unbedingt etwas zu essen. Mein Körper gierte nach Nahrung. Wie lange mußte ich noch warten? Wißt ihr das? Hab ich euch erzählt, daß ich gottverdammten Hunger hatte?
    Ich hatte schon überlegt, ein paar von den gerösteten Insekten auf meinem Bauch zu verspeisen … aber nein …
    Da beschloß ich doch lieber, ein bißchen Krach zu schlagen – die Aufmerksamkeit meiner Hüter so zu erregen, wie alle vernachlässigten hungrigen Kinder es tun –, und füllte daher meine Lungen mit Luft und heulte und heulte und schrie und tobte und knirschte und brüllte Sachen wie »Füttert mich!« und »Essen!« – und – »Brust!« und strampelte dabei die ganze Zeit in den unnachgiebigen Fesseln, die Pa – ein wahrer Meister des Fallenbaus – so sinnreich konstruiert hatte, daß sich mit jedem Tritt und jedem Aufbäumen meines kleinen Kinderkörpers die Bande ein wenig fester zusammenzogen und meine Bewegungen nur immer weiter beeinträchtigten, so daß ich meinen kleinen Aufstand schon nach einer Minute darauf beschränken mußte, schwächlich die Arschbacken zusammenzukneifen, hübsch wild mit den Augen zu rollen, die Zunge herauszustrecken und, natürlich, wirre Worte auszustoßen – O, wie sie mir von der Zunge flossen – O, wie sie meinem Mund entströmten – verdammt herrliche Wörter, die aus meinem tiefsten Bauch hervorstürzten – »Füttert mich!, – Ach Tod! Muß ich verhungern?« und »Verdammt, gebt mir zu essen!« – und wißt ihr was? – ich meine, könnt ihr euch vorstellen? – soviel ich auch schrie und kreischte – soviel ich auch heulte und jaulte – soviel ich auch brüllte und zeterte und jammerte – ja, soll ich euch was sagen?
    Keinen Piepser gab ich von mir – kein Laut drang aus meiner Kiste, aus meinem Bettchen.
    Nein, nicht einen Piepser gab ich von mir.
    Ich war verwirrt ob dieser Entdeckung. Fühlte mich betrogen. Angeschmiert.
    Ich fühlte mich einsam.
    Mit meiner einen freien Hand riß ich Stücke von dem Zeitungspapier, mit dem meine Kiste ausgelegt war. Die rollte ich zu kleinen Klümpchen und lutschte daran, bis sie ein weicher Brei waren, den ich dann schluckte.
    Mit diesem frugalen Mahl gelang es mir nach und nach, meinen Hunger zu stillen, und als mein Bauch gefüllt war, gähnte ich herzhaft und wandte meine Gedanken wieder meinem Bruder zu, der in der summenden Kiste neben mir lag. Ich gähnte noch einmal, noch herzhafter diesmal, schloß die Augen und fragte mich, während ich schon einduselte – sollte mein Bruder etwa auch stumm sein?
    »Schätze, das werd ich nie genau rausbekommen«, dachte ich noch, als der Schlaf sich um mich legte, »schätze, das werd ich nie erfahren.«
    Ich träumte, mein Bruder und ich wären im Himmel vereint und lägen auf warmen Wattewolken. Er zupfte seine goldene Harfe, und silbrige Töne rieselten auf meinen Körper. Wir lächelten.
    Mein Bruder hörte auf zu spielen und hob sich in die Luft. Seine Flügel waren schwarz und geädert und sonderten klebrigen Schleim ab. Er rieb die haarigen Beine aneinander und setzte sich die Harfe, die jetzt eine Krone war, auf den Kopf.
    Ich versuchte zu fliegen, hatte aber noch keine Flügel, nur einen unbehaarten weißen meuternden Madenleib – hilflos lag ich auf dem Rücken – auf dem Rücken. Mein Bruder zeigte auf mich und schrie »Räuber! Laß mich in Ruhe!! Laß mich in Ruhe!! Laß mich in
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