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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel
Autoren: Nick Cave
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meine Flaasche!!«
    Pa hatte mir zwei behelfsmäßige Haltegurte um Brust und Knöchel gespannt, die mich in meiner Kiste – meinem Bettchen – in eine waagerechte Haltung zwangen, doch überwältigt von dem nagenden Bedürfnis, zu sehen, was mein Bruder jetzt machte, nachdem er so spontan in die Ewigkeit abgetreten war, hob und reckte ich mit aller Mühe meinen Kopf, in der Hoffnung, ihn wenigstens kurz einmal zu Gesicht zu bekommen.
    Ohne Vorwarnung ins Leben befördert, ausgestoßen aus der schnapsgetränkten geronnenen Milch der Schwangerschaft – ach, diese trauliche Höhle, in der wir so lange schwammen! – und jetzt vom Trauma der Geburt erschüttert hier alleingelassen, hatte ich, wie ihr euch wohl denken könnt, eine peinlich unvollkommene Vorstellung von jenem allerletzten Rätsel. Ich mein, woher hätt ich wissen sollen, wie verflucht tot ein Toter wirklich war?
    Jedenfalls, so sehr ich auch strampelte und mir den Hals verrenkte, die Gurte gaben einfach nicht nach – kein bißchen, und am Ende ließ ich alle Hoffnung fahren. Völlig erschöpft und außer Atem lag ich bloß noch da und dachte, ja, dachte an den seligen Bruder in der Obstkiste neben mir, dachte, wie zum Teufel soll er in den Himmel kommen, wenn er auch nur halb so viel Mühe hat wie ich, seine Fesseln abzustreifen?
    Aber bei diesem ersten großen vergeblichen und letztendlich unheilvollen Kampf war es mir gelungen, einen kleinen Arm freizubekommen – und nun klopfte ich mit einem larvengroßen Knöchel eine Botschaft, wobei ich einen Kode aus Pochen und Klopfen und Pausen benutzte, den mein Bruder und ich uns ausgedacht hatten, als wir noch im murmelnden Schnurren des Mutterleibs schwammen.
    Vergiß-Deinen-Bruder-Nicht-Antworte.
    Aber das tat mein Bruder nicht. Ich klopfte ein zweites Mal und fügte am Ende ein Bitte an, doch wieder kam keine Antwort. Unverzagt erzählte ich ihm dann, was ich vom Leben wußte, und fragte ihn, ob der Tod ihm irgendwelche besonderen Kräfte verliehen habe. Meine Signale wurden wirr und drängend. Das vergebliche Klopfen klang hohl und einsam, blieb unbeantwortet über meiner Kiste hängen.
    Das-Leben-Ist-Böse-Ist-Die-Hölle-Kannst-Du-Fliegen-Höll-Hell-Hilfe.
    Schließlich nahm ich mich zusammen, und klopfte weinend und mit wundem Knöchel eine letzte Botschaft an die Innenwand meiner Kiste.
     
    Die Nacht sank herab – jetzt weiß ich das –, doch als ich in meiner Einsamkeit so angeschirrt auf dem Rücken lag und mit wachsender Furcht beobachtete, wie das wehe Licht des Tages eindunkelte und von der wunderlichen Musik der Finsternis durchdrungen wurde – von Eulenrufen, unablässigem Schrillen, Trippeln, und Schreien, die das Blut stocken machten –, da dachte ich, das Ende der Welt sei nah.
    Der Tag des Jüngsten Gerichts war gekommen, und ich konnte nichts tun als liegen – ja, und genau das hab ich vermutlich auch getan –, liegen und mich vom Zappendüster verschlingen lassen und warten, warten auf die Arche aus Seinem Testament, auf Blitz und Stimmen, Donner, Erdbeben und Hagelstürme.
    Langsam erstickte meine Welt unter Leichentüchern aus Angst und schwarzen Schatten, und als ich dann gar nichts mehr sehen konnte, nur noch die allerschwärzeste Finsternis, hörte ich, bleiern und schwankend, drohende Schritte über die Veranda kommen und vor der Tür stehenbleiben.
    Ich duckte mich in meiner Kiste.
    Ein schauriges Aufquietschen der Fliegentür, ein Tasten am Türhaken, ein lautes »Scheißtür«, ein Schwall grellen Lichts, ein lautes Zukrachen der Tür, ein furchtbarer Rülpser – und meine Mutter kam kopflos ins Zimmer gestürzt, zockelte blind an mir vorbei und verschwand auf der anderen Seite wieder nach draußen.
    Direkt über meiner Wiege hing eine einzige nackte Glühbirne von der Decke. Sie pulsierte heftig, schamlos und hypnotisch, und ich lag auf dem Rücken und beobachtete mit zunehmendem Verdruß, wie dieser surrende Polarstern von einer stetig wachsenden Zahl von Nachtinsekten umschwärmt wurde. Hilflos mußte ich zusehen, wie alle Augenblicke eine übereifrige Motte oder Mücke oder Fliege an die tödliche Birne stieß und sich dabei die kleinen Flügel und haarfeinen Gliedmaßen verbrannte. Und damit war ihr vergebliches Treiben beendet; kreischend stürzten sie ab und landeten alle nacheinander in meiner Obstkiste. Schwärme von amputierten Insekten kreiselten in meiner Wiege – starben gräßliche Tode, führten ihre Todeskämpfe mit aller grausigen Schaurigkeit direkt
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