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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel
Autoren: Nick Cave
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Ruuuhe!!« Dann sah ich, daß der Himmel eine rote Waschküche geworden war, in der ich langsam kreisend herumschwebte, wozu es unablässig wupperte, »bumm-bumm… bumm-bumm… bumm-bumm …«, wie ein Herz.
     
    Ich wachte auf.
    Mein Vater ragte über mir wie ein krummer Stock. In seinem ergrauten Gesicht glommen zwei kleine blasse Augen aus ihren Höhlen.
    Eine Schüssel und ein Brot in den Händen, setzte Pa sich hin.
    Ich lutschte an einem Stück milchgetränkten Brots, das er mir hinhielt, und es schmeckte warm und süß.
    Pas Finger rochen nach Pech oder Schmieröl.
    Mein Hunger schwand schnell, ich machte den Mund zu und drehte meinen Kopf weg. Ich konnte diesen beißenden chemischen Geruch nicht mehr ertragen.
    Pa stand auf.
    Sein Stuhl war eine hochkant gestellte Obstkiste!
    Ich suchte meinen Bruder. Mein Bruder war weg! Und die Kiste auch! Statt dessen lag neben mir eine metallene Tierfalle, ganz mit schwarzem Öl eingeschmiert. Klaffender Rachen! Spiralfeder! Blutrünstige Hauer!
    Ich sah weg, mir blutete das Hirn. Und wie.
    Pa ging zur Tür. Auf der linken Schulter hatte er einen Spaten mit langem Stiel. Und jetzt erst fiel mir sein grauer Schädel auf, und das haarige Loch. Da fehlte ein Ohr.
    In den Händen hielt er einen verschnürten Schuhkarton. Auf dem Deckel stand ›Nr. 1‹.

II
    DER PROPHET
     
    Die Stimme des Tals No. 38 Aug. 1932
     
    Höret, ihr KINDER DES HERRN!
    Am ZWEITEN FREITAG im AUGUST im Jahre
des Herrn 1932
    jährt sich zum 70sten Male das
    »MARTYRIUM DES PROPHETEN UND HEILIGEN
    JONAS UKULORE«
    Am Nachmittag des Jahrestages dieses gesegnetsten und
    blutigsten Tages
    wird unser Tal in Trauer seines Propheten und Patriarchen
    JONAS UKULORE
    gedenken.
    Seine sterblichen Überreste und Reliquien werden von
    ihrem derzeitigen Ruheort im UKULORE VALLEY
BETHAUS
    zum Stadtplatz überführt und dort aufbewahrt werden.
    Von diesem Tag an soll der Platz MEMORIAL SQUARE heißen.
    Zur Feier dieses allerheiligsten Tages
    soll ein DES PROPHETEN würdiges Denkmal
    enthüllt werden.
    Gläubige Ukuliten,
    um 3 Uhr nachmittag dieses Freitags, des 2. August 1932, ziehen die Kinder Israels, ihr Gläubigen Ukuliten,
    vom Bethaus zum Memorial Square,
    wo der Leichnam des Propheten und Märtyrers
    zur ewigen Ruhe gebettet werden soll.
    Die Andacht hält Sardus Swift.
    Simon Bolsom, Historiker und Biograph,
    liest aus seiner demnächst erscheinenden Biographie
    Jonas Ukulore: Prophet und Verkünder, Mensch
und Märtyrer
    im Großen Saal.
    Eliza Snow singt in Begleitung von Alice Pritchard.
    Nach dem Gottesdienst gibt es im Kleinen Saal ein Essen.
    Bringen Sie nichts mit, meine Damen. Die Speisen
    werden von Valley Functions geliefert.
    – ALLE SOLLEN TEILNEHMEN –
     
    Es war in eine gewaltige Leinwandplane gehüllt, die unten von einem durch Messing-Ösen gezogenen Seil zusammengehalten wurde. Unter der Plane sah es aus wie eine große graue Sphinx, vom Sand der Zeit zur Unkenntlichkeit geschmirgelt.
    Um es drängte sich in tiefer Ehrfurcht die Gemeinde der Ukuliten.
    Am Morgen zuvor war ein riesiger Sattelschlepper mit dem Denkmal in die Stadt gekommen, grau und verhüllt hatte es auf der Ladefläche gestanden und genauso ausgesehen wie jetzt. Sardus Swift, der das Tal um fünf Uhr an diesem Morgen verlassen hatte, um mit einem Zuckerrohr-Transporter nach Davenport und von dort mit dem Zug nach Orkney zu fahren – »für den Fall von Komplikationen« hatte er die Lieferanten unbedingt auf der 380 Meilen langen Fahrt zurück ins Tal begleiten wollen –, saß, den Hut auf dem Schoß, ernst und gerade, das Gesicht jedoch gerötet vor Stolz, den nicht einmal er zu unterdrücken vermochte.
    Die beiden Lieferanten des Denkmals, ein fetter Mr. Godbelly und ein noch fetterer Mr. Pry, machten einen erschöpften aber gutgelaunten Eindruck. Ein Dutzend Männer war erforderlich gewesen, das Monument, das an Ketten von dem Wagen herabgelassen wurde, an die ihm zugedachte Position auf dem Platz zu wuchten.
    Selbst einige der Zuckerarbeiter hatten mitgeholfen, obwohl die Teilnahme an der eigentlichen Zeremonie ihnen verwehrt war – denn wer nicht reinen Glaubens war, durfte an diesem für die Ukuliten Heiligen Tag, dem Tag zum Gedenken an »Das Martyrium des Propheten«, nicht mitfeiern. Die Bewohner des Tals tolerierten, wie sie es schon seit vielen Jahren taten, die unorthodoxen Bräuche der Ukuliten, die zwar nur ein knappes Fünftel der rund zweitausend Einwohner ausmachten, dafür aber die Raffinerie, den
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