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Im Schatten des Drachen

Im Schatten des Drachen

Titel: Im Schatten des Drachen
Autoren: A. Leuning
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Einleitung
     
     
    Irgendwo und irgendwann nach dem 09. Mai 2002
       
     
    Anfangs dachte er, dieses grellgleißende Licht würde seine Sinne ausbrennen, ihn in sich selbst verglühen und nichts als weiße Asche zurücklassen. Er wusste, dass er dagegen ankämpfen sollte, doch er fand keine Kraft, um sich gegen die blendende Wand zu stemmen, sie mit seinem Willen zu durchstoßen. Sein Gefühl sagte ihm, dass auf der anderen Seite dieses Lichtinfernos nichts sein konnte, um das es sich zu kämpfen lohnte. Vielleicht wäre es wirklich einfacher, sich erneut in die tiefen Schatten der Bewusstlosigkeit fallen zu lassen. Einfacher und heilsamer.
    Doch irgendetwas zog ihn mit unbarmherziger Penetranz aus dem Nebel heraus, in dem er sich zu verstecken suchte, und schließlich klärten sich seine Sinne. Mit unendlicher Mühe begann er wahrzunehmen, wo er sich befand. Sein Kopf lag auf einem Kissen, das nicht sein eigenes war; die Bettbezüge raschelten lauter als die in seinem eigenen Bett, fühlten sich steif und steril an, als wären sie jahrelang mit dem falschen Waschmittel gewaschen worden. Er wollte seine Augen zwingen, sich ganz zu öffnen, und nach einigen erfolglosen Versuchen taten sie ihm den Gefallen, schenkten ihm einen verschwommenen Ausblick auf die Welt hinter den weißen Nebeln. Sein Kopf schmerzte, als das blendende Licht auf seine Netzhaut fiel. Weiß, weiß, alles war weiß: die Bettdecke, die Wand gegenüber, die Zimmerdecke über ihm, die Neonlampen, die dort hingen. Langsam wandte er den Blick nach rechts, zu der weißen Tür, an der ein weißer Bademantel hing. Dann zurück zur anderen Seite, wo das Fenster sein musste, denn die Helligkeit nahm in dieser Richtung zu. Strahlend weiße Gardinen vor einem grauweißen Himmel.
    Dann fokussierten seine Pupillen auf die erste Farbe, die sie in dieser farblosen Welt wahrnahmen: Rot. Das Rot stach in seine Pupillen wie ein glühendes Schwert in sein Herz. Es lag auf dem weißen Nachttisch neben seinem Bett. Ein Schuh, ein Turnschuh. Sein linker Turnschuh. Daran ein Bein, bis über den Knöchel, der Socken baumelte leer über die Nachttischkante. Und alles war rot, rot von Blut. Seinem eigenen Blut. Und jetzt sah er auch, dass seine Bettdecke unten links blutdurchtränkt war. Nass und kalt klebte sie an seinem Bein, und er spürte mehr, als dass er es sah: dort unten hob sich keine Silhouette eines Fußes ab. Flach und schwer lag die Decke auf der Matratze. Schreiend fuhr er auf: „Maaaaaarc!!!“

Teil I
     
    - Der Flug -
     
     
    Dublin, St.-Stephens-Green, 01. September 2007
       
     
    Das erste, was ich von ihm wahrnahm, war eigentlich nicht mehr als ein Gefühl, dass da jemand war. Ich sah ihn nicht, jedenfalls nicht direkt, und hören konnte ich ihn über die Entfernung zwischen uns auch nicht. Es war eher wie eine Eingebung, ein instinktives Innehalten und Nachspüren - wie wenn man plötzlich die absolute Gewissheit hat, dass im nächsten Moment etwas Entscheidendes passieren würde, etwas, das das Leben komplett verändern könnte. Ob zum Besseren oder Schlechteren, das wird einem in diesem Sekundenbruchteil nicht klar, und man ahnt es auch nicht; man kann sich nur entscheiden zwischen dem Vorher und dem Nachher, zwischen Ignorieren und Weitergehen - oder Innehalten und sich einfangen lassen.
    Ich entschied mich dafür, innezuhalten bei dem, was ich gerade tat, und diesem seltsamen Gefühl nachzuspüren, das meine Haut prickeln ließ wie eine feuchte Kinderzunge, auf der Brausepulver zerging; auszuloten, woher der Klang kam, der meine inneren Sensoren zum Schwingen brachte wie eine Stimmgabel die Saiten eines Instruments.
    Es fiel mir ohnehin nicht sonderlich schwer, meine derzeitige Tätigkeit zu unterbrechen: zwei Kinder zu beobachten, die am Ufer des Parkteichs vor mir standen und zwei Brotscheiben in kleinste Bröckchen zerrupften, um diese dann mit ungelenken Bewegungen den Enten auf dem Teich zuzuwerfen. Die meisten der Bröckchen landeten keine zwanzig Zentimeter entfernt vor ihren Füßen - unerreichbar für die eigentlich doch recht dreisten und unerschrockenen Enten. Einige Bröckchen landeten hinter den Kindern - ein Festessen für die Horde frecher Spatzen und Sperlinge, die zu klug waren, um sich mit den Enten um die Brotbröckchen am See zu zanken, und daher lieber diejenigen aufklaubten, die auf der Wiese und dem angrenzenden Weg verstreut wurden.
    Ich hatte dieses Schauspiel schon oft beobachtet. Hier im St.-Stephens-Green, der
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