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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe
Autoren: Jodi Picoult
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ihre Hände unter denen seines Vaters liegen. Paige hat das nicht wissen können, und das kommt Nicholas unheimlich vor.
    Nicholas lässt das Porträt auf dem Schreibtisch liegen, ganz oben auf den Papieren, die er für Oakie Peterborough vorbereiten soll. Seit dem Tag, als er mit Oakie zu Mittag gegessen hat, hat er den Listen nichts mehr hinzugefügt. Das war vor einer Woche. Nicholas ermahnt sich immer wieder, dass er endlich einen Beratungstermin machen muss, doch dann vergisst er wieder, es seiner Sekretärin zu sagen, und er selbst ist schlicht zu beschäftigt dafür.
    Bei der Operation heute Morgen handelt es sich um einen ganz normalen Bypass, den Nicholas auch mit verbundenen Augen legen könnte. Strammen Schrittes geht er in den Umkleideraum, obwohl er es nicht eilig hat, und zieht sich seine blaue OP-Kleidung an. Er nimmt sich die Papierschuhe und eine Papierkappe und bindet die Maske am Hals fest. Dann atmete er tief durch, geht in den Waschraum und denkt nur noch an das Reparieren von Herzen.
    Es ist immer noch ein seltsames Gefühl, Chef der Kardiologie zu sein. Und als Nicholas den Operationssaal betritt, ist der Patient bereits vorbereitet, und die lockeren Gespräche zwischen Anästhesist, Assistenzärzten und Krankenschwestern verstummen. »Guten Morgen, Dr. Prescott«, sagt schließlich jemand, und Nicholas weiß dank der dämlichen Masken noch nicht einmal, wer das ist. Er wünschte, er wüsste, was zu tun ist, damit sich alle entspannen, doch dafür fehlt es ihm an Erfahrung. Als normaler Arzt hat er zu viel Zeit damit verbracht, sich nach oben zu kämpfen, als dass er darüber nachgedacht hätte, über wen er dabei geklettert war. Patienten sind eine Sache: Nicholas ist der festen Überzeugung, wenn jemand einem sein Leben anvertraut und 31 000 Dollar für fünf Stunden Arbeit bezahlt, dann hat er es auch verdient, dass man ihm zuhört und mit ihm lacht. Er hat sogar schon am Bett von Patienten gesessen und ihnen die Hand gehalten, während sie gebetet haben. Ärzte sind jedoch etwas vollkommen anderes. Sie sind so sehr damit beschäftigt, nach einem Brutus in ihren Reihen zu suchen, dass irgendwann jeder zu einer potenziellen Bedrohung wird. Das gilt besonders für einen Vorgesetzten wie Nicholas. Mit nur einem Eintrag in die Personalakte kann er eine Karriere beenden. Nicholas wünschte, er würde nur einmal lächelnde Augen über den blauen Masken sehen. Er wünschte, Marie, die kräftige, ernste OP-Schwester, würde mal ein Furzkissen unter den Patienten legen oder Plastikkotze auf das Instrumententablett. Auch ein Witz wäre sicher mal nett. Nicholas fragt sich, was wohl geschehen würde, wenn er in den Operationssaal kommen und sagen würde: »Kennen Sie schon den von dem Rabbi, dem Priester und dem Callgirl?«
    Nicholas redet leise, während der Patient intubiert wird, und dann dirigiert er den Assistenzarzt, einen Mann seines Alters, beim Entnehmen der Beinvene. Seine Hände bewegen sich wie von selbst, machen den Schnitt, öffnen den Brustkorb, durchtrennen Aorta und Vena cava für die Bypassmaschine und nähen und kauterisieren Blutgefäße, die versehentlich beschädigt worden sind.
    Nachdem das Herz angehalten worden ist – ein Vorgang, der seine Magie für Nicholas nie verloren hat –, schaut Nicholas durch seine Vergrößerungsbrille und beginnt, die kranken Herzarterien herauszuschneiden. Dann näht er die Beinvene ein, um das Hindernis zu umgehen. Als plötzlich Blut auf Nicholas und seinen ersten Assistenten spritzt, knurrt er einen Fluch. Der Anästhesist hebt den Blick, denn er hat noch nie gesehen, wie Dr. Prescott – der berühmte Dr. Prescott – die Fassung verliert. Doch gleichzeitig fliegen Nicholas’ Hände nur so dahin und klemmen das Gefäß ab, damit die anderen Ärzte es nähen können.
    Als alles vorbei ist und Nicholas zurücktritt, damit sein Assistent die Wunde schließen kann, fühlt er sich nicht so, als seien schon fünf Stunden vergangen. Das tut er nie. Nicholas ist nicht religiös, aber er lehnt sich an die geflieste Wand und spricht ein stummes Dankgebet. Trotz der Tatsache, dass er weiß, was er kann, kann Nicholas nicht anders, als zu glauben, dass Kardiologie auch viel mit Glück zu tun hat und dass irgendjemand seine schützende Hand über ihn hält.
    Und in diesem Augenblick sieht er den Engel. Auf der Galerie steht eine Frau, die ihre Hände ans Glas presst, ihre Wangen sind gerötet. Sie trägt etwas Weites, das ihr bis zu den Unterschenkeln
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