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Anthologie - Das Lustbett

Anthologie - Das Lustbett

Titel: Anthologie - Das Lustbett
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BÖRJE NORRSTRÖM
Tausend Triebe
I
    D ie lauen Maiwinde haben begonnen, in den Kastanien des Parks goldene Lichtkronen anzuzünden, aber es zieht ja so ekelhaft durch diese Cafetüren…
    Natürlich, das ist immer noch besser als im Bett. Die ganze Kraft geht dafür drauf, die Bettdecke festzuhalten, und man wacht todmüde auf.
    Genauso kalt war es heute morgen im Klaviermagazin gewesen. Der rechte Mittelfinger (der dritte, von welcher Seite aus man auch zählt) fror auf einem Es fest.
    Es ist ein wesentlicher Ton in Bachs B-Dur-Partita.
    Mit einem warmen e-Moll-C-Dur-Vorhalt (Brünhilde erwacht auf dem Stein) gelingt es dann, den Finger loszutauen und anschließend das kleine Stückchen Haut von dem schwarzen Holz abzukratzen. Damit entgeht man einem Zuschlag zur Saalmiete und kann dann zu Arlette und Monsieur Botto hinuntergehen und Kaffee mit Rum trinken, um den verbleibenden Rest von Wärme zu konservieren. Und Hindemith lesen.
    Romain Rolland: sechster Teil, noch vier übrig. Du hast schon mehr als die Hälfte geschafft, Junge! Bald bist du bereit für Rot und Schwarz . Ich hasse Julien Sorel, aber er verfolgt mich, dieser Kerl.
    Zwanzig Francs und noch eine ganze Woche bis zur nächsten Auszahlung. Warum müssen Stipendien immer so verdammt knapp bemessen sein? Ach ja, natürlich, man muß sich für die Kunst kasteien, die Seele wird dann geläutert.
    Ein hungriger Pianist ist der beste Pianist.
    Im Falle einer ordentlichen Professur oder einer Anstellung als Tenor kann Korpulenz, aber auf keinen Fall Fettleibigkeit erlaubt sein, wenn gute Gründe geltend gemacht werden können. Voraussetzung ist allerdings, daß die vom Kultusministerium erlassenen Instruktionen peinlich genau eingehalten werden.
    (Malreux VII: 7, zweite revidierte Auflage 1959)
    Diese verdammten Scheißtriller in der Gigue sitzen da wie lose Milchzähne. Ich glaube, ich werde sie mit einem Faden umwickeln und abreißen, wenn Casadesus anderweitig beschäftigt ist. Auf die Reinheit und die Werktreue kann ich mich jederzeit mit gutem Gewissen berufen.
    »Comme gewöhnlich, Monsieur?« Ach ja, er hat gute Laune, Botto, seit der Besatzungszeit.
    »Einen großen, ich erfriere bald. Morgen, Arlette.«
    Endlich breitete sich die Wärme aus; vom Magen wanderte sie nach außen vermittels dieser Gottesgabe; wurde weitergegeben an den Teil der Menschheit, der musikalisch ist oder die taumelnde Muse aus anderen Gründen unterstützte.
    »Der kälteste Mai, den wir seit dreiundvierzig gehabt haben. Ich erinnere mich noch so genau daran, weil die Boches damals Henri bei St. Julien le Pauvre erschossen haben. Ihr habt doch sicher die Gedenktafel an der Wand gelesen…«
    Botto plapperte drauflos, und ich machte die Ohren zu; ich habe Seehundsohren und kann sie zumachen.
    Die Tür wurde aufgepustet, Arlette ließ ein Bierglas fallen, und das lose Blatt in den Bach-Noten flatterte unter die Musikbox.
    Dunkle, große Augen. Rabenschwarzes Haar. Klein und zierlich, in den Zügen etwas Jüdisches.
    »Oh, Verzeihung«, sagte sie zögernd.
    Ich lieh mir Bottos Regenschirm, und nach einigen Minuten gelang es mir, das Blatt hervorzuholen. Sie hatte sich inzwischen an den Tisch neben meinem gesetzt. Arlette kam mit einer Tasse Kaffee an.
    »Sechzig Centimes, bitte.«
    Die Schwarzhaarige fummelte in den Manteltaschen und fand etwas Kleingeld. Es reichte nicht, und auch eine Untersuchung an anderen Stellen brachte kein Ergebnis. Sie errötete verwirrt.
    Arlette streckte sich nach der Tasse.
    »Der geht auf meine Rechnung«, sagte ich.
    »Aber… aber… das ist aber wirklich nicht nötig, ich kann bestimmt…«
    »Nein«, sagte ich, »es ist zu kalt draußen.«
    Sie sagte nichts, neigte aber den Kopf mit einem lustigen kleinen Ruck, etwa so, wie eine kleine Sechsjährige einen Knicks macht. Knicks.
    Ich machte noch eine Viertelstunde oder so mit Hindemith weiter.
    »… alterierte Akkorde mit römischen Nummern bezeichnen, so liefe man Gefahr, Mißverständnisse hervorzurufen…«
    Zum Teufel, das geht wirklich nicht.
    »Kommen Sie her, dann lade ich Sie zu einem Kaffee mit Rum ein. Das ergibt eine bessere Wirkung.«
    Sie zögerte.
    »Danke, aber es ist nicht nötig, daß…«
    »Doch, das ist es wohl, auf jeden Fall als Entschuldigung. Ich beiße nicht.«
    Sie lächelte, und ich hörte irgendwo eine silberne Glocke läuten, etwa um zweitausend Hertz. Dieses Lächeln war ein Triller bei Mozart, vielleicht etwas dunkler in der Farbe. Immer noch zögernd, überlegend,
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