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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe
Autoren: Jodi Picoult
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reicht und das im fluoreszierenden Licht des Operationssaals förmlich glüht. Nicholas kann nicht anders. Er tritt einen Schritt vor und hebt die Hand ein winziges Stück, als könne er sie berühren. Er kann ihre Augen nicht sehen, aber irgendwie weiß er, dass sie nur eine Erscheinung ist. Der Engel gleitet davon und verschwindet im dunklen Hintergrund der Galerie. Nicholas weiß, auch wenn er sie vorher noch nie gesehen hat, dass sie immer über seine Operationen wachen wird. Er wünschte nur, er könnte ihr Gesicht sehen. Er wünscht sich das so sehr, wie er sich noch nie etwas in seinem Leben gewünscht hat.
*
    Nach diesem spirituellen Erlebnis ist es eine große Enttäuschung für Nicholas, Paige während der Nachmittagsvisite in jedem Krankenzimmer vorzufinden. Heute hat sie ihr Haar zu einem Zopf geflochten, der ihr über die Schulter fällt und sich bewegt wie eine Peitsche, wenn sie Wasser nachfüllt oder Kissen aufschüttelt. Sie trägt kein Make-up – das tut sie ohnehin nur selten –, und sie sieht fast genauso alt aus wie die Teenager, die sonst diesen Job machen.
    Nicholas klappt Mrs. McCrorys Krankenakte auf. Die Patientin ist Ende fünfzig, hat vor drei Tagen eine neue Herzklappe bekommen und kann bald nach Hause. Nicholas fährt mit dem Finger über die Daten, die die Assistenzärzte gesammelt haben. »Ich denke, wir können Sie so langsam mal hier rausjagen«, sagt er und grinst Mrs. McCrory an.
    Mrs. McCrory strahlt und packt Paiges Hand, die ihr am nächsten ist. Erschrocken schnappt Paige nach Luft und hätte vor lauter Schreck fast eine Vase mit Petunien umgeworfen. »Immer mit der Ruhe«, sagt Nicholas trocken. »In meinem Terminkalender ist kein Platz mehr für einen unerwarteten Herzinfarkt.«
    Paige dreht sich angesichts dieser unerwarteten Aufmerksamkeit um. Mrs. McCrory beäugt sie kritisch. »Er beißt nicht, Liebes«, sagt sie.
    »Ich weiß«, murmelt Paige. »Er ist mein Mann.«
    Mrs. McCrory klatscht aufgeregt in die Hände. Nicholas murmelt etwas Unverständliches vor sich hin. Es erstaunt ihn immer wieder, wie schnell Paige seine gute Laune ruinieren kann. »Hast du nicht irgendwo was anderes zu tun?«, fragt er.
    »Nein«, antwortet Paige. »Ich soll da hingehen, wo du auch hingehst. Das ist mein Job.«
    Nicholas wirft die Krankenakten auf Mrs. McCrorys Bett. »Das ist nicht der Job von ehrenamtlichen Mitarbeitern. Ich bin schon lange genug hier, um zu wissen, was ihr macht, Paige. Ambulanz, Patiententransport, Anmeldung. Ehrenamtliche werden nie einem Arzt zugeteilt.«
    Paige zuckt mit den Schultern, doch es sieht mehr wie ein Zittern aus. »Sie haben eine Ausnahme für mich gemacht.«
    Nicholas hat Mrs. McCrory völlig vergessen. »Bitte, entschuldigen Sie uns«, sagt er, packt Paige am Oberarm und zerrt sie aus dem Raum.
    »Oh, bleiben Sie doch!«, ruft Mrs. McCrory ihnen hinterher. »Sie sind besser als Burns und Allen.«
    Im Flur lehnt Nicholas sich an die Wand und lässt Paige los. Er wollte sie anbrüllen und sich beschweren, doch plötzlich weiß er nicht mehr, was er sagen wollte. Er fragt sich, ob inzwischen schon das ganze Krankenhaus über ihn lacht. »Gott sei Dank lassen sie dich wenigstens nicht in den OP«, sagt er.
    »Doch, das tun sie. Ich habe dich heute beobachtet.« Sanft berührt Paige ihn am Ärmel. »Dr. Saget hat das für mich arrangiert. Ich war auf der Galerie. Oh, Nicholas, es ist einfach unglaublich, was du kannst.«
    Nicholas weiß nicht, was ihn wütender macht: die Tatsache, dass Saget Paige hat zuschauen lassen, ohne ihn vorher um seine Zustimmung zu bitten, oder dass sein Engel in Wirklichkeit seine Frau war. »Das ist mein Job«, schnappt er. »Das mache ich jeden Tag.« Er schaut Paige an, und da ist wieder dieser Ausdruck in ihren Augen: der Ausdruck, der vermutlich schuld daran ist, dass er sich in sie verliebt hat. Wie seine Patienten, so betrachtet auch Paige ihn als etwas Makelloses. Aber er hat das Gefühl, im Gegensatz zu den Patienten wäre Paige genauso beeindruckt gewesen, wenn sie ihn beim Putzen der Krankenhausflure beobachtet hätte.
    Der Gedanke schnürt ihm die Kehle zu. Nicholas zieht seinen Kragen hoch und denkt darüber nach, in sein Büro zu gehen und endlich Oakie Peterborough anzurufen, damit die Sache ein für allemal erledigt wird. »Nun«, sagt Paige leise, »ich wünschte, ich wäre auch so gut darin, alles zu reparieren.«
    Nicholas dreht sich um und geht den Flur hinunter und zum nächsten Patienten, einer
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