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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo
Autoren: Stefanie Zweig
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und was. »Sehr gemütlich ist es hier Granny Gram Gramps«, entwarf er seinen ersten Brief nach Hause. Mit einem Mal war er durchdrungen von einer Lebensfreude, wie er sie nur selten erlebte. »Bravo«, rief er. Er hob die Hände wie ein siegreicher Boxer. Ihm war es, als hätte er eine ähnliche Szene schon einmal gesehen, und es tat ihm Leid, dass er keine weiteren Bilder aus der Dunkelheit hervorholen konnte. Die Heiterkeit hielt aber an, sie machte ihn so unbeschwert wie diejenigen seiner Mitschüler, die im Unterricht nie zu lachen aufhören konnten, ohne dass ihnen ein Lehrer mit Repressalien drohte. David zwinkerte mit dem rechten Auge; er stand auf und wippte mit den Hüften.
    Weltmännisch zu zwinkern und die Hüften so zu schwingen, als wäre der Körper aus Gummi, waren Tricks, die er Morty verdankte und seit Wochen im Badezimmer übte. Mortimer McMillan war König der Klasse. Der genoss Freiheiten, an die andere Jungen nur in der Dunkelheit zu denken wagten. King Morty wohnte allein mit seinem Großvater in einem winzigen Haus in der Nähe der Pine-wood School. Das einzige Fach, in dem er in der Schule auf Lob hoffen durfte, war Kunst. Zusätzlichen Beifall holte er sich als Klassenclown und als erfahrener Kenner von Frauen. Seit drei Wochen behauptete Morty der Supermann, er hätte in einer warmen Mainacht in Hampstead Heath beide Teile eines fünfzehnjährigen Zwillingspaars verführt. Für Bewunderer, die ihn nicht mit den logischen Fragen der Zweifler belästigten, war er jeder Zeit bereit, das Thema zu vertiefen. Obwohl es David in einem Hotelzimmer in Nairobi Mühe machte, sich Mortys Gesicht auf dem Schulhof der Pinewood School vorzustellen, wenn der im Schutze eines Maulbeerbusches von seinen Abenteuern und Eroberungen erzählte, konnte er sich sehr genau an die Erfolgsberichte des viel beneideten Filous erinnern. David wurde heiß, als ihm Details von Mortys letzter Begegnung mit dem weiblichen Teil der Welt einfielen.
    »Der eine Zwilling trug einen schwarzen Büstenhalter mit einem kleinen goldenen Schlüssel«, hatte Morty berichtet, »und dreimal darfst du raten, was der andere anhatte.« Dem berauschten Zuhörer war zum Zeitpunkt des Geschehens, zwischen Französischstunde und Fußballtraining, kein Vorschlag eingefallen, mit dem er sich nicht blamiert hätte, aber nun, Mortys forschendem Blick nicht ausgesetzt, sagte er mit herzhaftem Männerlachen: »Mensch, das glaubst du doch selbst nicht.«
    Anders als beim Purzelbaum und auch, weil seine Gedanken so tief in eine Welt abgetaucht waren, in der er noch nicht ein regelmäßiger Gast zu sein pflegte, fiel David doch auf, dass seine Stimme sich in den letzten beiden Monaten verändert hatte. Er hustete zur Probe und registrierte befriedigt eine neue Tiefe. Der Anflug von Optimismus, eine für ihn atypische Gemütslage, machte ihn verwegen. Schon suchte er sein Kinn nach dem Bartflaum ab, der bei vielen Gleichaltrigen immerhin zu ahnen war, aber ihm ging sofort auf, dass in dieser Beziehung jeder Anflug von Hoffnung ein Euphemismus wäre. Körperlich hinkte der kleine David gewaltig hinter Morty dem großen Verführer her.
    »Marmaduke«, fluchte er.
    Er war niedergeschlagen, als ihm dämmerte, was geschehen war. Seine Phantasie hatte ihn in eine heimtückische Falle gelockt und zurück in die Abgründe der Kindheit katapultiert. Das hübsche Spielchen längst entschwundener Zeiten, mit Worten herumzualbern, deren Bedeutung nur ihm bekannt war und die er je nach Stimmungslage interpretieren konnte, passte wahrlich nicht mehr zu einem Menschen mitten im Stimmbruch. Nach jüdischer Lehre war David schon seit dreizehn Monaten und fünf Tagen ein Mann. »Dreizehn Monate und sechs Tage«, rechnete er nach, und dann gab er abermals, wie ein bockiges Kind, der Freude am Widerspruch nach. In einem singenden Tonfall holte er aus den Tiefen der Erinnerung den wunderlichen Satz: »So gemutlich wie in der Bibliothek von Lord Marmaduke«.
    Er war noch ratloser als wütend. Zum zweiten Mal war er die Beute seiner Phantasie geworden, ein bemitleidenswerter Zwerg, der sich nicht gegen Versuchungen zu wehren wusste, die ihn noch kleiner machten, als er war. Er schalt sich einfältig und unreif, beschimpfte sich als einen undankbaren, geistlosen Tropf, der nicht würdig wäre, auch nur ein einziges Buch aus der Bibliothek von Rabbi White anzufassen. Noch nicht mal mit einem Finger. »Unsere Bücher«, flüsterte David. Sie waren die Magie seines Lebens. Jedes
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