Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo
Autoren: Stefanie Zweig
Vom Netzwerk:
über dem Kopf, einem Käfer ähnlich, den nur noch ein Flügelschlag vom Tod trennt. Dem Holz, unmittelbar vor der Ankunft der Gäste geschrubbt und noch feucht, entströmte der stechende Geruch von den scharfen Desinfektionsmitteln, die in den Tropen benutzt werden, um die Hygienebedürfnisse der Menschen aus Europa zu befriedigen. David wurde noch übler als bei der Landung. Mit zugehaltener Nase stand er auf. Hustend und steifbeinig ging er zum Fenster. Nach einer Weile schob er eine grasgrüne Gardine zur Seite, jedoch kam ihm nur flüchtig der Gedanke, seine optimale Aussichtsposition im zweiten Stock zu nutzen, um sich dem Leben auf der Straße zuzuwenden. Es war ein erregtes, erregendes, wildes, wirbelndes Leben zwischen Jacarandabäumen, die blaue Blüten flaggten, und wehendem Zeitungspapier, das im weißen Sonnenlicht Ballett tanzte. Müll türmte sich vor den Häusern. Blechdosen und rottende Gummireifen waren von bräunlichen Wassergassen umgeben, in denen barfüßige Kinder plantschten.
    Davids Augen waren nur gewöhnt, sich auf das Vertraute, auf die abgenutzte Welt unter dem heimischen Himmel einzulassen; solche Augen wussten nichts vom Rausch der Farben. Nichts ahnten sie von der Magie der Fremde. In der Familie Procter galten das geschriebene Wort und die bestimmende Zahl mehr als die Phantasie von Träumern. »Kenia«, hatte seine Mutter gesagt, als zum ersten Mal von der Reise die Rede war, »wird dir gefallen. Die Bananen dort sind herrlich.«
    »Aber ich mag doch gar keine Bananen«, hatte David eingewandt.
    »Irgendetwas wird selbst dir schmecken, Sir. Da bin ich bombensicher.«
    Der empfindsame Sohn dieser nüchternen Mutter, die eine Kindheit auf einer Farm in Afrika nicht mit der Seele sehen gelehrt hatte, lächelte, als ihm die seltsame Unterhaltung einfiel. Noch wandelte er in den Fußstapfen der Mutter, misstraute den Malern und glaubte an Pythagoras. Die farbige Glut jenseits der Fensterscheibe war für ihn nur grauer Dunst. Er sah alles und doch nichts. Der gewaltigen Geräuschkulisse konnte er sich jedoch nicht verschließen. Sie war eine Übermacht, die nicht mit sich handeln ließ - eine Kakophonie aus andauernden, bösartigen Hup-tönen, zornig quietschenden Reifen, lustvoll brüllenden Männerstimmen und schrillem Kindergeschrei. Zwei Frauen mit Babys auf dem Rücken und hoch erhobenen Händen stritten sich mit überschlagender Stimme. Trommeln wurden gedroschen. Ein Mann spielte Trompete. Hunde keiften. Glas klirrte, als ein alter Fensterrahmen auf die Straße geworfen wurde. Eine Motorsäge brüllte. David drückte seine Hände fest an die Ohren. So schuf er für einen kurzen Moment Stille, und doch holten ihn das Leben, die Vergangenheit und Gespenster ein, die er Mühe hatte zu erkennen.
    Er spürte die gleiche Erschöpfung wie nach der Blinddarmoperation, als das Fieber plötzlich so gestiegen war, dass das Hospital nach seinen Eltern geschickt hatte. Nur diesmal hatte der Arzt ein schwarzes Dreieck auf der Stirn und einen Speer statt einen weißen Kittel. »Nein, nein«, rief David entsetzt, weil die Erinnerung ansetzte, seine Kehle zuzudrücken. Eine Hand, von der er nicht wusste, wem sie gehörte, berührte seinen Kopf. Die Kraft der verhexten Bilder ließ nach, so barmherzig schnell, dass sich David seiner Angst schämte. Verwirrt berührte er seine Stirn, er fuhr sich mit beiden Händen durch sein dichtes Haar, und dann grinste er, ein wenig benommen und sehr verlegen, aber befreit und zufrieden.
    »Schon gut«, raunte er.
    Sein Blick ging zurück zum Bett. Er fand es seltsam, dass die phantasievolle Tagesdecke ihm nicht schon vor dem misslungenen Purzelbaum aufgefallen war. Auf moosgrüner Fläche marschierte eine blaue Elefantenmutter mit zwei Jungen. Über dem erhobenen Rüssel des Muttertiers war ein gelb gesticktes Quadrat, in dem in roter Blockschrift das Wort »Jambo« mit einem dicken Ausrufezeichen geschrieben stand. »Jambo«, sagte David gut gelaunt.
    Er wiederholte das Ohren schmeichelnde Wort, nickte zweimal und salutierte. Es tat ihm gut, nach den vielen fremden Stimmen so deutlich die eigene zu hören. Das war wie Heimkommen am Freitagabend, wenn er müde von der rigorosen Schuldisziplin war und das Haus in Hampstead nach frisch gebackenem Rührkuchen, Hühnersuppe und gehackter Kalbsleber roch. Er dachte an seine Großmutter und dass eine Sabbatsuppe, die sie kochte, besser als jede andere war. Ihr Enkel hätte sie gern wissen lassen, dass er an sie dachte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher