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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo
Autoren: Stefanie Zweig
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Buch, das er las, war eine kostbare Leihgabe seines Tutors, war Teil eines heiligen Paktes.
    Jeden Abend, wenn sich David für die Nacht verabschiedete, lächelten seine Eltern einander verschwörerisch zu, und sie ahnten nicht, wie sehr sie sich irrten. Sie kannten ihr Kind so wenig wie andere Eltern auch. Was ihr zweitgeborenes Kind betraf, waren Liesel und Emil Procter ahnungslos. Abend für Abend waren sie sicher, ihr Sohn würde nachts heimlich in jenen Aufklärungspamphleten schmökern, die in bürgerlichen Familien als die unumgänglichen Begleiterscheinungen der Pubertät galten. Es war nicht so. David brütete sehr wohl über Büchern, die ihn aufklärten, aber sie befriedigten nicht die Bedürfnisse des Körpers, von denen Morty McMillan so verlockend zu erzählen wusste. Es waren die Bedürfnisse des Geistes und der Seele, die David nachts beschäftigten. Nur sie führten ihn in die Welt der Männer ein. Hatte ein solcher Mann, der nach Wahrheit, Weisheit und Erkenntnis strebte, hatte der das Recht, wie ein einfältiges Kind zu plappern, zu spielen, dem Allmächtigen die Zeit zu stehlen?
    Mit gesenktem Kopf schlich David zurück zum Bett; er setzte sich ächzend und zog die Strümpfe aus. Seine Füße waren noch vom langen Flug geschwollen, die Haut juckte. Zum zweiten Mal innerhalb von einer halben Stunde spürte er ein starkes Verlangen, ins Nebenzimmer zu seinen Eltern zu laufen, von seiner Verwirrung zu berichten, sich am Gleichmut der Mutter und der guten Laune des Vaters zu stärken, doch er blieb sitzen. Selbst wenn die Eltern nicht sofort mutmaßen würden, er fühle sich verloren und einsam oder krank und auf der Suche nach Zuspruch, Rose mit ihrem allerorten gelobten Blick für das Wesentliche würde die Situation spontan durchschauen. Seine Schwester, von der jeder behauptete, sie sei so sanft und engelhaft, wusste immer und über alles Bescheid - wenn es um ihren Bruder ging, brauchte der schöne strahlende Engel die Hälfte der Zeit, die andere benötigten, um aus einem Jungen einen Narren zu machen. Die liebenswert sanfte Rose hatte nicht allein die Augen eines Adlers und ein Gedächtnis wie ein Elefant. Aus der Sicht ihres Bruders war sie eine eitle, neugierige Person, die die lästige Eigenschaft hatte, ungebeten ihre Meinung unter die Menschheit zu bringen.
    Über dem Schreibtisch, auf dem eine Mappe aus bordeauxrotem Leder und zwei Bleistifte lagen, hing ein runder Spiegel an einem großen goldenen Haken. David stand auf und stellte sich davor. Als er sich erblickte, verdorrte das, was von seinem Selbstbewusstsein noch übrig geblieben war. Tomatenrot glühte sein Gesicht. Das Haar, in London noch rötlich schimmernd, flammte Feuer und klebte feucht am Kopf. Obwohl David mit Afrikas Sonne bisher nur auf dem Weg vom Flugzeug zum Taxi in Berührung gekommen war, hatte sich seiner Einschätzung nach die Anzahl der Sommersprossen verdoppelt. Er versuchte, die Fröhlichkeit zurückzuholen, die ihn ein paar Minuten zuvor wenigstens so weit belebt hatte, dass er lächeln konnte, streckte seinem Spiegelbild die Zunge entgegen und füllte seine Backen mit Luft. Der Anblick erinnerte ihn prompt an die Ballons der Kinderpartys zu seinen Geburtstagen und sofort daran, dass er sich bei denen nie so richtig wohl gefühlt hatte. Von dem Gelächter, das er ins Zimmer hatte schießen wollen, blieb nur ein Krächzen. Er wollte Edgar Alan Poes Gedicht vom Raben aufsagen, doch außer dem Refrain »Nimmermehr« fiel ihm nichts ein.
    »Und jetzt gerade«, drohte David dem Spiegel und nahm Boxerhaltung an.
    So aufgedreht und albern wollte er sein wie die Jungen in seiner Klasse beim Siegestor der Fußballmannschaft. Sosehr er aber sein Gedächtnis motivierte, um das Bild von den berauschten Gesichtern seiner Mitschüler ins Visier zu bekommen, er fand nicht den kleinsten Ansatz, seine Sinne mit jener Lebensfreude voll zu pumpen, von der alle behaupteten, sie sei das Vorrecht der Jugend. Auf schwerfällige, plumpe Art ahmte David zum zweiten Mal die Bewegungen eines Boxers nach, doch er ließ sich keinen
    Augenblick blenden. Er fand sich hässlich und lächerlich, stampfte mit dem rechten Fuß auf, registrierte befriedigt, wie der Holzfußboden erzitterte, knirschte mit den Zähnen, drückte die Lippen nach vorn und den Kopf zwischen die Schultern. Was als Spiel begonnen hatte, wurde Wirklichkeit, aus Aggression eine hilflose Wut, die ihn zu ersticken schien. Plötzlich musste der umnebelte Kämpfer im Reich der
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